Olaf Scholz ist niemand, der sich verbal unnötig ausbreitet oder zu Sätzen von schlichter Deutlichkeit neigt. Es mag daher in Vergessenheit geraten sein, dass der Bundeskanzler schon früh und in bemerkenswerter Klarheit ausbuchstabiert hat, wo für ihn die rote Linie bei der Unterstützung der Ukraine verläuft.
"Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem Dritten Weltkrieg führt", sagte Scholz kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs. "Es darf keinen Atomkrieg geben." Es müsse alles dafür getan werden, so der Kanzler, eine direkte militärische Konfrontation zwischen der Nato und Russland zu vermeiden.
An dieser Haltung hat sich auch zwei Jahre und eine "Zeitenwende" später nichts geändert, doch stellt sie der Kanzler wieder deutlicher heraus. Bis heute treibt Scholz die Sorge vor einer möglichen Eskalation um, die Deutschland in den Krieg hineinziehen könnte. Damit begründete er damals seine Absage an die Einführung einer Flugverbotszone über der Ukraine. Heute liegt sein "Nein" zur Lieferung des deutschen "Taurus"-Marschflugkörpers darin begründet.
Zu zaghaft, zu zurückhaltend begegne Scholz dem Kriegstreiber aus dem Kreml, monieren seine Kritiker. Doch Scholz wähnt die Mehrheit der Deutschen bei seinem abwägenden Kurs hinter sich. Nicht wenige von ihnen sind dieses Jahr zur ein oder anderen Wahl aufgerufen. Und so gibt sich der Kanzler vielleicht mehr denn je als umsichtiger Mahner, der den Westen vor einem Atomkrieg bewahrt, jedenfalls in letzter Konsequenz. Dass laut "New York Times" offenbar auch die USA ein solches Szenario befürchteten, könnte der Kanzler als Bestätigung seiner Vorsicht sehen.
Im Oktober 2022 verdichteten sich offenbar die Anzeichen, dass Russland einen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine zumindest in Erwägung ziehen könnte. Das legt ein aktueller Bericht der US-Zeitung nahe. Damals sei der amerikanische Präsident Joe Biden über abgefangene, vertrauliche Kommunikation informiert worden, die wohl auf eine gewisse Bereitschaft der russischen Seite zu einer nuklearen Eskalation schließen ließ.
In besagtem Herbst gelang es den ukrainischen Streitkräften im Zuge einer Gegenoffensive, große Gebiete im Osten des Landes zurückzuerobern. Die russischen Invasoren gerieten unter Druck – und fühlten sich möglicherweise in die Enge getrieben. Dass Russland vor diesem Hintergrund tatsächlich einen Einsatz von Nuklearwaffen in der Ukraine erwogen hatte, sei dem Bericht zufolge zwar nicht verbrieft. Trotzdem war die US-Seite alarmiert genug, um offenbar verschiedene Szenarien durchzuspielen. Auch soll es Überlegungen gegeben haben, wie eine mögliche Reaktion auf einen russischen Nuklearwaffeneinsatz hätte aussehen können.
Vor allem aber galt es einem "Armageddon", wie Präsident Biden das Schreckensszenario in einer Rede bezeichnete, auf diplomatischem Wege vorzubeugen. Dafür sind offenbar auch die Drähte zwischen Washington und Berlin heiß gelaufen. Laut "New York Times" soll Kanzler Scholz über die US-Geheimdienstinformationen in Kenntnis gesetzt worden sein, kurz bevor er zu einem bereits geplanten (und umstrittenen) Staatsbesuch aufgebrochen ist. Perfektes Timing?

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Olaf Scholz und der Pflock in Peking
Scholz war Anfang November 2022 nach Peking geflogen – begleitet von Skepsis und Kritik. Der Kanzler war der erste ausländische Regierungschef, der Staatspräsident XI Jinping nach dem Volkskongress der Kommunistischen Partei seine Aufwartung machte. Xi hatte sich auf dem Parteitag in einem ungewöhnlichen Schritt für eine dritte Amtszeit bestätigen und innenpolitische Gegner aus dem Weg räumen lassen. Außenministerin Annalena Baerbock hatte die Terminierung mit der allgemein als spitze Kritik empfundenen Bemerkung kommentiert, den Zeitpunkt habe Scholz gewählt.
Scholz war zuvor schon wegen des Einkaufs eines chinesischen Reedereibetriebs in den Hamburger Hafen regierungsintern unter Druck geraten. Mehrere Ministerien hatten das Investment der Firma Cosco abgelehnt. Man einigte sich kurz vor der Kanzlerreise auf einen Kompromiss. Trotzdem wurde Scholz vorgehalten, er mache einen Kotau vor den chinesischen Machthabern.
In der offiziellen Pressekonferenz des Kanzlers mit Ministerpräsident Li Keqiang in Peking war vom Ukraine-Krieg und Atomwaffen kaum die Rede. Erst allmählich sickerte durch – unter anderem durch eine Mitteilung des chinesischen Außenministeriums –, dass Xi, wenn auch sehr verklausuliert, Russland nach dem Gespräch mit Scholz aufgefordert hatte, keine Atomwaffen zu nutzen. Die internationale Gemeinschaft müsse "gemeinsam den Einsatz von und die Drohung mit Atomwaffen ablehnen", hieß es in der Mitteilung. Gemeinsam müsse man sich dafür einsetzen, eine "Nuklearkrise in Asien und Europa zu verhindern".
Wie hat Scholz das geschafft? Kaum jemand hatte mit dem Bekenntnis von Xi Jinping gerechnet, jedenfalls ging es in der öffentlichen Wahrnehmung erstmal unter. Der Bericht der "New York Times" legt nun nahe, dass der Kanzler den chinesischen Staatspräsidenten während ihres Gesprächs über die US-Erkenntnisse unterrichtet hat, um Xi dazu zu drängen, sowohl öffentlich als auch bilateral Moskau vor einem Atomwaffeneinsatz zu warnen. Es bleibt unklar, ob Xi auch im persönlichen Kontakt mit Wladimir Putin eine entsprechende Warnung ausgesprochen hat. So oder so: Peking hat einen Pflock eingeschlagen.
SPD-Fraktionschef Mützenich: "Gewichtiger als jede einzelne Waffenlieferung"
Scholz selbst half unmittelbar nach seiner Rückkehr ein wenig dabei nach, die Nachricht zu verbreiten, die er als Erfolg seiner Diplomatie verbuchte: "Es ist nicht erlaubt, es ist unvertretbar, in diesem Konflikt Nuklearwaffen einzusetzen", sagte er bei einem Debattenkonvent der SPD in Berlin. "Wir fordern Russland auf, dass es klar erklärt, dass es das nicht tun wird. Das wäre eine Grenze, die nicht überschritten werden darf." Das habe auch Präsident Xi Jinping erklärt. "Alleine dafür hat sich die ganze Reise gelohnt", kanzelte er seine Kritiker ab.
Wenige Tage später verabschiedete auch der G20-Gipfel in Indonesien eine Erklärung gegen den Einsatz von Atomwaffen, allerdings so allgemein, dass dieser Passage auch Russland zustimmte. Scholz sprach danach in einem ARD-Interview dennoch von einem "starken Signal". Es sei klargestellt worden: "Das darf nicht passieren, das ist eine rote Linie, die nicht überschritten werden darf", so Scholz. "Und dass das so viele Länder gemeinsam gesagt haben, macht die Welt ein Stück sicherer."
Scholz dürfte sich in seiner Strategie bestätigt sehen, die Länder des sogenannten globalen Südens bei geopolitischen Fragen enger einzubinden, um den weltweiten Krisen auch in Zukunft begegnen zu können. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, der die Strategie mit erdacht hat und offensiv vertritt, sieht darin ein wichtiges Element in der Konfliktlösung – auch mit Blick auf den Ukraine-Krieg.
"Das gemeinsame Bekenntnis mit Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping, dass es zu keiner nuklearen Eskalation kommen darf, halte ich für gewichtiger als jede einzelne Waffenlieferung", sagte Mützenich nun dem stern. Im Ukraine-Krieg komme es auch auf die Länder des globalen Südens an, daher sei es richtig und wichtig gewesen, dass der Bundeskanzler auch auf diese Länder zugegangen sei. "Das jahrelange Schwarz-Weiß-Denken in der Außenpolitik ist vorbei."
Ob Russland tatsächlich einen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine erwogen haben könnte, lässt sich nicht abschließend sagen. Regierungssprecher Steffen Hebestreit wollte den Bericht der "New York Times" am Montag nicht näher kommentieren. "Aber vielleicht gibt mir das Gelegenheit, noch einmal deutlich zu machen, dass man es sich bei all diesen Abwägungsfragen nicht so einfach machen sollte", sagte er in der Regierungspressekonferenz. "Zumindest macht es sich offensichtlich die amerikanische Administration nicht so einfach."
Klammer auf: Und der deutsche Bundeskanzler auch nicht.