Krieg in der Ukraine Jetzt nimmt Russland Kiews Bergfestung Tschassiw Jar in die Zange

Russischer Pnazer im besezten Donetzk.
Russischer Pnazer im besezten Donetzk.
© Alexander Ermochenko/Reuters
Nach Bachmut und Awdijiwka greifen die Russen nun die nächste Stadt an. Tschassiw Jar liegt wie ein Wellenbrecher vor der letzten Verteidigungslinie im Osten und darf nicht fallen. 

Seit Wochen beschießen die Russen die Kleinstadt Tschassiw Jar, nun hat der eigentliche Angriff begonnen. Sie stießen entlang der Straße 00506 vor und konnten sich im äußersten östlichen Zipfel der Stadt festsetzen – genau genommen handelt es sich bei der Siedlung "Kanal" um eine Handvoll Häuser vor dem eigentlichen Stadtgebiet. Gleichzeitig besetzten sie einen nördlich davon gelegenen Wald bis zur Eisenbahnlinie.

Zangenbewegung um die Stadt

Tschassiw Jar liegt etwas westlich von Bachmut. Der russische Angriff auf die Stadt war eine Frage der Zeit, nachdem Ivanivske – es liegt unmittelbar neben Bachmut – gefallen war. Damit war der Weg frei für einen Flankenangriff. Alle größeren Bodenoperationen in dem Krieg basieren darauf, dass das Ziel von drei Seiten aus angegriffen wird. Und auch in Tschassiw Jar bereiten die Russen eine Umgehung an beiden Flanken vor. Ein anspruchsvolles Unterfangen in diesem Positionsschach, denn zumindest die obere Zangenbewegung wird von den ukrainischen Streitkräften von einem Höhenzug mit den Ansiedlungen Bohdanivka und Kalinina aus bedroht. Und müsste von den Russen gesichert werden.

Ein Soldat der ukrainischen Streitkräfte bei Robotyne
Ein Soldat der ukrainischen Streitkräfte bei Robotyne in der Region Saporischschja im Südosten der Ukraine
© Dmytro Smolienko / Ukrinform via ZUMA Press Wire) / Action Press
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 Wellenbrecher im Donbass

Warum ist die Stadt so wichtig? Durch die Höhenlage beherrscht Tschassiw Jar die Umgebung und blockt als Wellenbrecher alle größeren russischen Bewegungen an dieser Front. Wollen die Russen weiter nach Westen, müssen sie zunächst diese Stadt erobern. Hier halten die Ukrainer die Russen seit langem auf. Kiew hingegen darf die Festung nicht verlieren, dahinter liegen zunächst keine gleichwertigen Befestigungsanlagen. Wenn Tschassiw Jar fällt, werden sich die Russen langsam, aber unaufhaltsam auf die Kette von Städten von Kostjantyniwka, Kramatorsk bis Slowjansk zu bewegen. Sie sind die letzte Verteidigungslinie im Donbass und kritisch für das Überleben der freien Ukraine. Diese Städte schirmen das Gebiet bis zum Dnjepr ab. Wenn Putin ein Loch in diese Linie hackt, sähe es sehr schlecht aus. Kriegsentscheidend ist Tschassiw Jar also nicht, auch diese Stadt ist wiederum nur eine Ouvertüre zu etwas Größerem.

In absehbarer Zeit wird die Stadt nicht fallen. Das liegt schon an den geografischen Gegebenheiten. Die ganze Stadt wird von einer Eisenbahnlinie und größeren Straßen zerschnitten. Von Nord nach Süd fließt ein Kanal. Der kleinere Teil der Stadt liegt am östlichen Ufer. Ihn wollen die Russen nun einkreisen. Ihre Idee wird darauf abzielen, die stärker bebaute Zone an beiden Seiten zu umgehen. Und im Norden an der Eisenbahn vorzustoßen, bis sie die Feuerkontrolle über den Kanal und die Überquerungen erlangt haben.

 Können die Russen den Druck erhöhen?

In Tschassiw Jar wird sich zeigen, ob das russische Momentum ausläuft, oder ob die Russen den Druck halten oder gar noch steigern können. Eine wesentliche Bedeutung, neben der Überlegenheit bei der Artillerie, kommt den Gleitbomben und anderen schweren Fernwaffen zu. Kiew kann nur sporadisch Fernwaffen mit Gefechtsköpfen von 500 Kilogramm Gewicht einsetzen. Die Russen starten jeden Monat weit über tausend Gleitbomben von 500 und 1500 Kilogramm Gewicht – in Zukunft werden noch drei Tonnen schwere Bomben und fatale thermobarische Bomben hinzukommen.

Bislang hat Kiew kein Mittel gegen diesen Bombenhagel gefunden. Diese Bomben ändern die Grundregeln des Stellungskrieges in der Ukraine. Fabrikhallen, Keller, Bunker und Unterstände, die sicheren Schutz vor Drohnen und Artillerie geboten haben, widerstehen keiner Gleitbombe vom Typ FAB-1500. Videos zeigen ihre Wirkung. Eine FAB-1500 bringt ein ganzes Hochhaus zum Einsturz, es begräbt alles, was sich in ihm befunden hat. Der Kampf um Tschassiw Jar beginnt für die Verteidiger daher unter ungünstigeren Bedingungen als die Kämpfe um Sjewjerodonezk, Bachmut und Awdijiwka. Diese Schlacht beginnt, wie die um Awdijiwka geendet hat, in einem Hagel von schweren Bomben.

Kämpfe werden den Ton für den Sommer setzen

Russland erreicht nicht an allen Abschnitten der Front so eine erdrückende Überlegenheit. Insbesondere im Drohnenkrieg muss der Kreml seine Kräfte konzentrieren und damit andere Abschnitte entblößen, an denen die Ukrainer dann die Oberhand behalten und den Russen mit Drohnen schwere Verluste beibringen. Doch die Kämpfe um Tschassiw Jar werden den Ton für die nächsten Monate setzen. Gelingt den Ukrainern eine erfolgreiche zähe Verteidigung, werden die Russen ihr bisheriges Momentum verlieren, weil sie weitere Verluste erleiden, ohne Gewinne zu erzielen. Sollten die Russen mit ihren Gleitbomben aber Erfolg haben, wird das neben den Verlusten vor Ort die Moral insgesamt weiter drücken. So wie die Angriffe auf die Energieversorgung und die Großstadt Charkiw. Es wäre der Beweis, dass unter dieser Luftüberlegenheit keine Kriegsführung am Boden möglich ist.