Krieg in der Ukraine Darum ist Putins Vernichtungsfeldzug gegen das Stromnetz so erfolgreich

Rauch und Feuer nach einer Raketenexplosion am größten Staudamm der Ukraine, dem DniproHES. Die Maschinenhalle soll komplett zerstört sein.
Rauch und Feuer nach einer Raketenexplosion am größten Staudamm der Ukraine, dem DniproHES. Die Maschinenhalle soll komplett zerstört sein.
© Reuters
Marschflugkörper mit Tarnkappentechnik und Hyperschallwaffen greifen die Kraftwerke der Ukraine an. Sie beschädigen die Anlagen nicht, sie zerstören sie. So will Putin die Ukraine in die Steinzeit zurückbomben.

Am Boden rücken die russischen Truppen in zähen Positionskämpfen langsam vor. Hier ist zu befürchten, dass die Kämpfe im Wesentlichen die ukrainischen Truppen binden und abnutzen sollen, bis der Kreml eine neue Großoffensive beginnt.

Gleichzeitig ist die strategische Luftoffensive gegen die ukrainische Energieversorgung in eine neue Phase getreten. Schon im Winter 2022/2023 haben die Russen das Stromnetz attackiert. Durchaus mit Erfolg. In der freien Ukraine gingen zwar nicht überall die Lichter aus, doch die Versorgung konnte nur aufrechterhalten werden, weil der Industrie der Strom gekappt wurde.

Angriff auf die Kraftwerke selbst 

Damals standen die Knotenpunkte des Stromnetzes im Fokus der russischen Angriffe. Das ist nun anders: Putin attackiert primär die Kraftwerke und das ist ungleich gefährlicher für die Ukraine. Die Angriffe erfolgen mit Marschflugkörpern und auch mit Hyperschallwaffen. Begleitende Drohnenattacken dienen dazu, die Luftabwehr zu beschäftigen. Die einfachen Drohnen erzielen nicht die notwendige Wirkung für diese Schläge. Eine erste große Angriffswelle erfolgte am 22. März, dann kam es zu vereinzelten Attacken und am 29. März startete eine neue Angriffswelle mit 99 Drohnen und Missiles. Ein Ende der Angriffe ist nicht in Sicht.

Der Chef des ukrainischen Energieriesen DTEK Dmytro Sacharuk bescheinigte den russischen Missiles eine große Präzision. "Die Genauigkeit der Raketen ist beeindruckend", so Sacharuk. Während sie früher 100 bis 200 Meter vom Ziel entfernt landeten, erreichten sie jetzt etwa einen Meter. Sie sind in der Lage die Herzen der Kraftwerke zu treffen, die Turbinen und Maschinenhäuser.

Nicht allein die Präzision, auch die Sprengkraft wurde verstärkt. Die Ukrainer berichten, dass der Tarnkappen-Marschflugkörper Ch-101 nun einen Sprengkopf von 800 Kilogramm besitzt, regulär waren es 450 Kilogramm. 450 Kilogramm ist eine typische Größe für Marschflugkörper. Die Modelle Ch-101, Ch-102 - Nato Name AS-23 Kodiak – haben eigentlich eine Reichweite von 3000 bis 4000 Kilometern. Solche Distanzen benötigen die Russen für ihre Angriffe nicht, also haben sie den Treibstoff verringert und das Gefechtsgewicht vergrößert. Die Ukrainer können die Kodiak kaum abfangen, sie verfügen über Tarnkappentechnik und elektronische Störmaßnahmen.

Technische Unterstützung bei der Planung 

Mit diesen Angriffen zerstören sie Kraftwerke im ganzen Land. Der größte Staudamm der Ukraine – DniproHES – wurde allein acht Mal getroffen. Der Stromerzeuger Centrenergo berichtete, dass das aus zehn Blöcken bestehende Wärmekraftwerk Zmiivska in der Region Charkiw am 22. März bei einer großen Angriffswelle zerstört worden sei. Mit einer Kapazität von 2200 Megawatt ist es das größte Kraftwerk in der Ostukraine. Dazu wurden Kraftwerke in den Regionen Dnipropetrowsk, Poltawa und Tscherkassy angegriffen. Aura Sabadus vom britischen Think Tank Independent Commodity Intelligence Services sagte gegenüber dem Portal VOA, dass die Russen die Anlagen und ihre Schwachstellen genau kennen. "Das Außergewöhnliche ist, dass sie genau wussten, was sie angreifen mussten, was ein Hinweis darauf ist, dass sie auf ihrer Seite mit Energiespezialisten zusammenarbeiten, die das ukrainische System genau kennen und vermutlich dem Militär helfen."

Der größte Energieversorger DTEK erklärte: "Die Angriffe zerstörten die Hälfte der verfügbaren Erzeugungskapazität von DTEK. Fünf der sechs DTEK-Kraftwerke, die vor dieser Woche in Betrieb waren, haben inzwischen schwere Schäden erlitten." Andere Versorger wie Yasno berichteten, dass sie innerhalb einer Woche die Hälfte ihrer Kapazität verloren haben. Da die Angriffe unvermindert andauern, dürften diese Angaben bereits überholt sein.

Nur ein Feld bleibt übrig  

Es werde Monate dauern, die Schäden an den Kraftwerken zu beheben, so DTEK. Die Reparatur des Wasserkraftwerks Dnipro, sogar Jahre. "Der Schaden ist enorm. Keine Dächer, keine Ausrüstung, nur ein einfaches Feld bleibt nach den Angriffen von unseren Anlagen übrig … verbrannte Erde."

Das unterscheidet die neuen Angriffe. Netz-Knotenpunkte und Umspannungswerke konnte Kiew mit Hilfe der Verbündeten relativ schnell in Stand setzen. Die Schäden jetzt sind bleibender Natur. Die Russen greifen die Anlagen mit so einer Vehemenz an, dass sie praktisch neu errichtet werden müssen. Wenn eine Reparatur unter Angriffen gelingt. Diese Anlagen sind so groß, dass sie nicht im Verborgenen entstehen können. Die industrielle Infrastruktur wird so in die Steinzeit gebombt, um die Formulierung des US-Generals Curtis E. LeMay aus dem Vietnamkrieg zu benutzen.

Schlag gegen die gesamte Wirtschaft der Ukraine

Was sollen diese Attacken bewirken? Die Russen demonstrieren, dass sie bei Marschflugkörper, schweren Drohnen und Raketen das gleiche Übergewicht erreicht haben wie bei der Artilleriemunition. Die Dimensionen: In Deutschland diskutiert man seit Monaten über die Lieferung von etwa 200 – allerdings hochwirksamen – Marschflugkörpern vom Typ Taurus – und Russland kann 100 Flugkörper in einer Nacht starten. Diese Flut soll auch die ukrainische Luftabwehr erschöpfen. Mit dem derzeitigen Stopp von Lieferungen aus den USA kann der Verbrauch an Abwehrraketen kaum ausgeglichen werden.

Sollte die strategische Luftoffensive weitergehen, wird Kiew einen Großteil der Stromerzeugung verlieren. Dazu attackieren und zerstören die Russen Gasspeicher und Knotenpunkte des Gasnetzes. Mittlerweile ist die Ukraine an das europäische Stromnetz angeschlossen, auch diese Verbindungen wären geeignete Ziele. Ebenso wie die Dämme und Brücken über den Dnipro. Weiterhin könnte die Wasserversorgung der Großstädte ins Visier geraten.

Neu an den Attacken ist, was Dmytro Sacharuk "verbrannte Erde" nannte oder was russische Blogger mit "die Handschuhe ausziehen" umschreiben. Diese Angriffe führen zu bleibenden Schäden, die die Ukraine weit zurückwerfen. Es wird kein Gedanke daran verwendet, wie das Leben nach dem Krieg weitergehen soll. 

Sollte Russland mit diesen Angriffen weiterhin Erfolg haben, wird auch dieses Mal nicht dauerhaft das Licht in den Krankenhäusern ausgehen. Doch der Strom für Industrie und Eisenbahn wird knapp. Beim Schienentransport kann man sich mit alten Dieselloks behelfen, doch ohne Strom wird die verbliebene Industrie leiden, wenn nicht zusammenbrechen. Das russische Kalkül zielt auch darauf ab, die verbliebene Rüstungsindustrie in der Ukraine zu schädigen. Unter dem Licht dieser Attacken könnte auch die Neuansiedlung von Waffenfabriken noch einmal überdacht werden.

Die Kosten der Verbündeten weiter erhöhen 

Behinderungen von Eisenbahn und Flussüberquerungen werden auch das Militär treffen, das eigentliche Angriffsziel aber ist die zivile Gesellschaft der freien Ukraine. Die Rechnung ist einfach: Ohne Strom gibt es in vielen Sektoren kein Wirtschaftsleben. Ohne Produktion gibt es keine Löhne und ohne Löhne keine Perspektive. Vielleicht werden die Betroffenen in der Ukraine unterstützt, vielleicht fliehen sie in Länder der EU. Beides treibt die Kriegskosten der Verbündeten nach oben, Kiew selbst kann seinen Haushalt nicht füllen. Eine Wahrheit, die im Westen ungern gehört wird, lautet: Die Milliarden an Euro, die in humanitäre Hilfe welcher Art auch immer fließen, belasten die Haushalte der Unterstützer-Staaten, ohne dass sie zu mehr Kampfkraft gegen Russland führen. Und das ist ganz in Putins Sinn, ebenso wie dieses Kalkül: Wenn die pro-europäischen Ukrainer in die EU oder in den Westen des Landes fliehen, wird es für Russland sehr viel leichter, weitere Teile der Ukraine dauerhaft zu besetzen.