Prozess Tumulte und Gewalt: Berlins größtes Gericht musste zeitweise schließen

Foto in einen Gerichtssaal mit stehen Richtern und weiteren Personen
Der Gerichtssaal im Kriminalgericht Berlin-Moabit. Hier hatte am 15. August 2023 der Prozess gegen den 20-Jährigen begonnen
© Paul Zinken/dpa
Wer hat die kleine Anissa erstochen? Beim Prozess in Berlin gerieten Freunde und Bekannte der Mutter und des Angeklagten aneinander.

Das Kriminalgericht Berlin-Moabit, am Donnerstagnachmittag gegen 14 Uhr: Schreie gellen durch die steinerne Eingangshalle. Menschen hetzten in Rudeln durchs Gebäude, es kommt zu Rempeleien und Schlägen. Rufe sind zu hören. 

 "Hure!" 

 "Mörderin!"

"Warte ab, die Wahrheit kommt noch ans Licht!"  

"Du hast Dein Kind umgebracht!" 

Das Justizwachpersonal fordert Verstärkung an. Es eskortiert die um sich schlagenden Menschen, von denen viele außer sich sind vor Wut, nach draußen. Das Gerichtsgebäude wird zeitweise gesperrt. Es wird Hausalarm ausgelöst. Alle Verhandlungen, die gerade laufen, müssen unterbrochen werden. Kein Zugang mehr, auch nicht für Zeugen und Anwälte. Auf der Straße gehen die Auseinandersetzungen weiter, mehrere Einsatzwagen der Polizei fahren auf, immer wieder kommt es zu Handgreiflichkeiten. 

Der Tumult vom Donnerstag ist vorläufiger Höhepunkt – oder Tiefpunkt – eines Prozesses vor dem Landgericht Berlin. Seit Wochen wird dort über ein Verbrechen zu Gericht gesessen, das Berlin bewegt hat wie nur wenige zuvor. 

Polizeiautos vor Gericht
Polizeiautos stehen vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit, wo es zu einer Auseinandersetzung im Fall der kleinen Anissa kam
© Tilman Gerwien

Auf der Anklagebank sitzt der 20 Jahre alte Gökdeniz A. Im Februar dieses Jahres soll er die damals fünfjährige Anissa im Bürgerpark von Pankow mit mehreren Messerstichen getötet haben. Gökdeniz A. war ein Bekannter von Sibel C., der Mutter von Anissa. Er sollte auf einem Spielplatz auf Anissa und ihre drei jüngeren Geschwister aufpassen. Als Anissa auf Toilette musste, ging er mit ihr fort – und kam ohne sie wieder. Angeblich habe er sie, nachdem sie hinter Gebüschen am S-Bahnhof Wollankstrasse uriniert hatte, aus den Augen verloren, so seine Aussage. Aber schnell verwickelte sich A. in Widersprüche, der Verdacht fiel auf ihn. Seitdem schweigt er. Die Anklage lautet auf Totschlag. 

Auf den Fluren und im Treppenhaus des Gerichts geraten in einer Verhandlungspause Verwandte und Freunde aneinander: Die von Gökdeniz A. und die von Anissas Mutter. Die Mutter Sibel C. wird bedrängt, getreten, zu Boden geworfen, andere Frauen reißen ihr teilweise das Kopftuch herunter.  

Sie hatte den Angeklagten übergangsweise bei sich zu Hause aufgenommen. Weil er ihr leidtat, wie sie sagt. Vielleicht auch, weil es ganz praktisch war: Denn Gökdeniz A. konnte jederzeit auch als kostenloser Kinderbetreuer eingesetzt werden.  

Problemkind auf der Suche nach Zuwendung

Vor Gericht bieten sich tiefe Einblicke in ein Milieu, in dem zwischen Opfern und Tätern nicht so einfach zu unterscheiden ist. Alle Beteiligten haben türkische Wurzeln. Auf der einen Seite der Tatverdächtige, von Anfang an in der Schule ein Problemkind: anlehnungsbedürftig und auf der vergeblichen Suche nach Freundschaft, mit großen Lernschwierigkeiten bei einem extrem niedrigen Intelligenzquotienten von um die 70. Ab und zu quälte er andere Kinder, Mädchen griff er an die Brüste und zog sie am Pferdeschwanz. Einmal verschmierte er die Turnhalle mit seinem eigenen Kot. 

"Ich fand, er war unglaublich bedürftig. Er brauchte ganz viel Hilfe, ganz viel Zuwendung, ganz viel Kontakt, ganz viel Unterstützung. Das war das, was ihm immer gefehlt hat", so die Leiterin der Förderschule, auf die Gökdeniz A. jahrelang ging. "Aber irgendwann haben wir ihn verloren." Eine andere Lehrerin, die ihn unterrichtet hatte, sagt: "Er hatte sowas Kleinkindhaftes. Ich hab' ihn ja gemocht". Am Ende ihrer Aussage greift sie zum Papiertaschentuch und wischt sich die Tränen aus den Augen. Beim Rausgehen nickt sie dem Angeklagten nochmal still zu. Gökdeniz A. nickt zurück, ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Wohl ein Abschied für immer. 

Laut Aktenlage soll er von seiner Familie vernachlässigt und immer wieder geschlagen worden sein. Zuletzt lebte er mehr oder weniger auf der Straße – bis er bei Sibel C. Zuflucht fand. Doch diese Sibel C., die bisher in der Öffentlichkeit nur geschildert wurde als leidende Mutter, der auf grausame Weise ihr Kind genommen wurde, erscheint nun durch die Aussage eines Zeugen zumindest teilweise in einem anderen Licht.  

Dieser Zeuge, ein Ex-Freund der Schwester von Sibel C., der kurze Zeit bei C. wohnte, erzählt, die kleine Anissa sei, ebenso wie ihre drei jüngeren Geschwister, von der Mutter chronisch vernachlässigt worden. "Schläge" habe es gegeben, "dolle Schläge, Rumschreiereien, sie hat den Kindern Angst eingeflößt". Sibel C. sei außerdem auf einem Internetportal der Prostitution nachgegangen. Und sie habe Drogen konsumiert, auch in Gegenwart der Kinder. "Ich hab' viel erlebt", so der Zeuge. "Aber das ist nochmal was Neues für mich gewesen."  

Die Suche nach der wahren Schuld

Ausgebreitet wird in diesem Prozess vor der Jugendkammer des Landgerichts Berlin eine Welt der Vernachlässigung, der emotionalen Armut, in der es wenig Geborgenheit gibt, dafür jede Menge Konflikte, gebrochene Biographien und eher flüchtige Kontakte. Eine Welt, in der alle irgendwie Verlierer sind.  

An dem Tag, an dem es zu den Tumulten kommen wird, sind die Zuschauerbänke bis zum letzten Platz gefüllt: Verwandte und Freunde, die nur mühsam an sich halten können und vom Richter wegen ihrer Unruhe mehrfach ermahnt werden müssen. Für sie – das erklärt wohl die handgreiflichen Auseinandersetzungen – geht es jetzt darum, in diesem tragischen Verbrechen wenigstens einen Rest an Würde und Familienehre zu wahren. 

Für die Freunde des Angeklagten hat eigentlich Sibel C. ihre Tochter auf dem Gewissen: letztlich desinteressiert an ihren Kindern, ohne Liebe und Fürsorge, mit ausschweifendem Lebensstil. Gökdeniz A. ist in ihren Augen das willfährige Opfer, mit dem Sibel C. von ihrem angeblichen Versagen als Mutter ablenken will. Der Angeklagte also als das eigentliche Opfer, das sich schon mangels Intelligenz nicht gegen den Vorwurf wehren kann, die kleine Anissa getötet zu haben. Für Sibel C. und ihre Freunde und Bekannten sieht es dagegen so aus, als solle sie in den Schmutz gezogen werden, indem man privateste und intimste Details aus ihrem Leben ausbreitet, um ihr die Würde zu nehmen: als Mutter und als Frau.  

Obwohl eigentlich noch weitere Zeugen geladen waren, nahm Richter Uwe Nötzel die Verhandlung nicht wieder auf. Zu aufgeheizt war die Stimmung im Saal und davor, zu groß waren wohl auch die Sicherheitsbedenken. Kommende Woche steht der nächste Verhandlungstag an. Bis Mitte November soll ein Urteil gefällt werden.  

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