Nach zwei Zugunglücken auf der wichtigen Ost-West-Achse zwischen Köln und Berlin läuft der zeitweise komplett gesperrte Verkehr zwar langsam wieder an, aber Bahnreisende müssen weiterhin mit Verspätungen von etwa einer halben Stunde rechnen. Am Mittwochnachmittag waren nahe Vennebeck bei Minden mehrere Waggons eines Güterzugs entgleist. Nur einen Tag zuvor waren bei Neubeckum im Münsterland - kaum hundert Kilometer entfernt - 44 Waggons eines Güterzugs aus den Schienen gesprungen.
Die Reparaturarbeiten an der Unglücksstelle dauern länger als erwartet, denn auf zwei Kilometern Länge sind Schienen und Gleisbett verwüstet. Vier Oberleitungsmasten, zwei Hauptsignale und mehrere Weichen sind schwer beschädigt. Die frostigen Temperaturen bereiteten den Technikern zusätzliche Probleme.
Der Bahn fehlen Ersatzzüge
Nicht nur die noch ungeklärten Entgleisungen machen der Bahn zu schaffen. Die Minustemperaturen bringen den Fahrplan erheblich aus dem Takt. Vereiste Oberleitungen durch gefrierenden Regen blockieren die Stromzufuhr. Frischer Schnee setzt den Hightech-Zügen mit Neigetechnik zu. Pünktlich zum Weihnachtsverkehr hatte die Bahn jeden zweiten ICE auf der Strecke von Berlin nach München aus dem Verkehr ziehen müsen. "Die Fahrzeuge sind nicht so gebaut, dass sie diesen sibirischen Temperaturen standhalten", sagte ein Bahnsprecher. Zusätzliches Ärgernis für die Bahnkunden: Es konnten keine Ersatzzüge zur Verfügung gestellt werden, weil "zurzeit alles fährt, was fahren kann".
Die Züge seien auf einen normalen mitteleuropäischen Winter ausgelegt und "reihenweise kaputtgegangen, weil dieser trockene Pulverschnee durch die Lüftungsgitter in die Fahrzeuge flutscht und dabei die elektrischen Bauteile in Mitleidenschaft ziehen kann". Diese Argumentation können viele Reisende nicht nachvollziehen, denn der Winter ist zwar kalt, aber nicht sibirisch. Durch das milde Wetter der vergangenen Jahre hatte die Bahn Glück: die Wetterfühligkeit der Züge konnte nicht auffallen.
Keine Entwarnung bei den ICE-Achsen
Ein wichtiges Problem der Bahn ist an keine Jahreszeit gebunden. Schon seit mehr als einem Jahr müssen die ICE-Achsen in kürzeren Intervallen per Ultraschall geprüft werden. Der für den Personenverkehr zuständige Bahnvorstand Ulrich Homburg spricht von einem "absoluten Ausnahmezustand". Dieser dürfte noch länger anhalten. Denn "bis die Hersteller uns in zwei bis drei Jahren wirklich dauerfeste Bauteile liefern, müssen wir gezwungenermaßen einen riesigen technischen Aufwand treiben".
Das heißt konkret: Die Radscheiben müssen mehr als doppelt so oft ausgetauscht und die betroffenen ICE-Achsen zehnmal häufiger inspiziert werden. Ein neues ICE-Werk in Leipzig, elf zusätzliche Ultraschallanlagen und 135 weitere Mitarbeiter sollen das Debakel im Fernverkehr lindern. Erst Ende 2011 werden 15 weitere ICE-3-Züge die Fahrzeugflotte verstärken.
Der Verkehrsexperte der Grünen, Anton Hofreiter, wirft der Bahn vor, ihre Kunden hinters Licht zu führen. Nach seinen Informationen wurden die ICEs zwischen Berlin und München keineswegs wegen der Witterung aus dem Verkehr gezogen. "Richtig ist vielmehr, dass die Wartungskapazitäten für die ICEs nicht ausreichen", sagte Hofreiter. Dies sei ein weiterer Beleg für Fehlplanungen des Konzerns. Dem widerspricht die Bahn. Man habe die Wartungskapazitäten erhöht, nur müssten die Fahrzeuge viel häufiger in die Werkstatt. "Dadurch ist die Flotte, die für den Betrieb zur Verfügung steht, kleiner", so der Bahnsprecher.
Die Berliner S-Bahnkrise
Dauer-Notstand herrscht auch bei der S-Bahn in der Hauptstadt, die unter der Regie der Bahn betrieben wird. Seit die Temperaturen unter Null gefallen sind, fällt über die Hälfte der Flotte aus. Nach den dramatischen Zuständen im Herbst hat die Berliner S-Bahn-Krise einen neuen Höhepunkt erreicht. "Wartung, Prüfung und Instandhaltung blockieren einen großen Teil der Wagen, und nun kommen noch Störungen aufgrund des Winterwetters hinzu", sagt ein S-Bahn-Sprecher. Das Ergebnis: Nur 286 von 632 Wagen stehen zur Verfügung. Immerhin will die Bahn-Tochter zwei Werkstätten wiedereröffnen, die zuvor im Zuge der radikalen Sparmaßnahmen stillgelegt wurden. Doch auch dies wird keine rasche Besserung bringen.
Einen schnellen Ersatz für die Bahn als S-Bahn-Betreiber gibt es nicht, denn das Land Berlin ist an seinen Vertrag noch bis Ende 2017 gebunden. Danach könnte Schluss sein mit der Zweisamkeit, denn der Senat will den unzuverlässigen Partner offenbar loswerden. "Wir müssen uns befreien aus der Abhängigkeit eines monopolistischen Unternehmens", sagte Verkehrssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Daher werde derzeit eine Ausschreibung eines Teils des Netzes für die Zeit nach 2017 vorbereitet. Zugleich prüft der Senat, ob die landeseigenen Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) das Teilnetz betreiben könnten. Dritte Option sei, einen Kauf der S-Bahn durch das Land zu prüfen.
Für die Kunden wäre wohl jede Option besser als der jetzige Zustand. "Deutsche Bahn und S-Bahn GmbH sind dabei, Glaubwürdigkeit und Vertrauen für lange Zeit zu verspielen. Sie fügen damit dem öffentlichen Verkehr schweren Schaden zu", sagt Christfried Tschepe, Vorsitzender des Berliner Fahrgastverbandes IGEB. Der Unmut ist groß und parteiübergreifend. "Wir fordern eine Fahrpreissenkung von zehn bis zwanzig Prozent", sagt Claudia Hämmerling, verkehrspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Grüne im Berliner Abgeordnetenhaus. "Es soll nur der Preis bezahlt werden, den das Chaos wert ist." Die CDU schlägt sogar vor, die Fahrgäste aus den 37 Millionen Euro zu entschädigen, die der Senat im vergangenen Jahr für nicht erbrachte Leistungen einbehalten hat. Das Thema ruft auch den Bundesverkehrsminister auf den Plan. Peter Ramsauer forderte etwas, das viele als einen Schwachpunkt des Staatsunternehmens empfinden: eine kundenorientierte und bürgerfreundliche Kommunikation.