Hieu Minh Jason feiert an diesem Samstag seinen ersten Geburtstag. Er trägt einen dreiteiligen schwarzen Anzug und Fliege. Ein kleiner Buddha mit großer Zukunft. Seine Eltern haben das größte Restaurant im Dong Xuan Center gemietet, zwei vietnamesische Sänger engagiert und Menükarten mit den Initialen von Minh drucken lassen. Rund 120 Gäste sitzen an den in Blau, Weiß und Türkis gedeckten Tischen. Auf einem Sideboard am Eingang türmen sich Geschenke.
Vor 35 Jahren kamen Nordvietnamesen als Studenten in die DDR
Wer es zu etwas gebracht hat, zeigt es, hier in Little Hanoi, im Osten Berlins. Und auch, wer erst noch etwas werden will, braucht ein dickes Auto, ein Nummernschild mit Glückszahlen, eine Frau in eleganten Kleidern und ab dem 25. Lebensjahr mindestens ein Kind, das die Familienehre schultert. Einen wie Minh, der schon als Baby den Boss gibt.
Minh ist die Zukunft. In Minh wird investiert. Und wenn Minh irgendwann einmal selbst viel Geld verdient, werden seine Eltern vielleicht endlich sein, was sie vor lauter Arbeit nicht zu träumen wagten: glücklich.
Mehr als 35 Jahre ist es her, dass Nordvietnamesen als Studenten und Vertragsarbeiter in die DDR kamen. Wer studieren durfte, landete im Paradies: Das sozialistische Bruderland bot Stipendien, ein Zimmer im Studentenwohnheim und das Besuchsrecht für Freund oder Freundin. Für die Arbeiter hingegen war es die Hölle: In den Betrieben trugen sie keine Namen, sondern Nummern. Sie mussten im Akkord schuften, wurden in Wohnheimen isoliert und erhielten nur einen Teil ihres Lohns, der Rest ging nach Hanoi. Wurde eine Arbeiterin schwanger, drohte Zwangsabtreibung oder Abschiebung.
Als die Mauer fiel, lebten rund 60.000 Nordvietnamesen in der DDR. Viele blieben im Osten der wiedervereinigten Hauptstadt, in den Bezirken Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf – dort, wo sie einst ankamen. Heute leben und arbeiten etwa 26.000 Menschen vietnamesischer Herkunft in der Stadt. Hinzu kommen viele illegal eingewanderte Vietnamesen, das Landeskriminalamt schätzt ihre Zahl auf weitere 20.000.
Der Unternehmer
Als Nguyen Van Hien das Lokal im Dong Xuan Center betritt, schauen die Geburtstagsgäste kurz auf. Wie eine unsichtbare Welle schwappt die Aufmerksamkeit durch den Saal. Hier ein höfliches Nicken, dort ein Handschlag mit angedeuteter Verbeugung, dann nimmt Nguyen Van Hien an einem Tisch im Nebenraum Platz. Ende der 80er Jahre kam er als Arbeiter nach Berlin. 2003 gründete er das Center. Heute ist er so etwas wie der Bürgermeister der Nordvietnamesen. Die Leute kommen zu ihm, wenn sie Arbeit suchen oder ein Geschäft gründen wollen.
Es heißt, er sei der reichste Vietnamese Deutschlands. Er sagt dazu nur dies: "Ich hoffe, dass ich es nicht bin. Millionär bin ich sowieso."
Als nach der Wende seine Baubrigade in Potsdam abgewickelt wurde, zog Nguyen Van Hien als Textilhändler über ostdeutsche Wochenmärkte. Der Bedarf an billiger Kleidung aus Fernost war riesig und das Internet noch keine Konkurrenz. "Ich habe immer von 4 Uhr bis 23 Uhr gearbeitet und dann auf den Pullovern geschlafen. Ein Bett hatte ich nicht."
In seinem Büro im fünften Stock des Backsteinbaus an der Herzbergstraße zeigt Nguyen Van Hien eine Fotografie, darauf steht er neben Angela Merkel. Sie entstand bei einem Treffen der Bundeskanzlerin mit Berliner Unternehmern im September 2016. Er ist stolz auf das, was er aufgebaut hat. "Glück", sagt er, "ist, ein gutes Geschäft zu machen und ordentlich zu leben."
2012 gründete er im Berliner Umland eine Lebensmittelfabrik, die ganz Europa mit gegrillten Enten, Tofu und Sojabohnen beliefert. Mehr als 30 Millionen Euro habe er in das Gelände des ehemaligen VEB Elektrokohle gesteckt, um das Dong Xuan Center zu verwirklichen, sagt Nguyen Van Hien. Gerade ist nebenan sein neues Hotel eröffnet worden. Und in Ahrensfelde am Rande Berlins hat er 70.000 Quadratmeter Bauland gekauft. 120 Eigenheime sollen dort demnächst entstehen. "Ich empfehle, Häuser und Wohnungen zu kaufen. Und Vietnamesen kaufen wie verrückt." Der 60-Jährige hat alles unter Kontrolle: den federnd gespannten Körper, den wachsamen Blick, das gelassene Äußere. Und die Welt, die ihn umgibt.
Als die Mauer fiel, brachen nicht nur die Volkseigenen Betriebe zusammen, sondern für die Vietnamesen die ganze Welt: Sie verloren die Arbeit, den Platz im Wohnheim, die Aufenthaltsgenehmigung. Status ungeklärt. Die drohende Abschiebung brachte etwa 34.000 Arbeiter dazu, mit 3000 Mark Abfindung in der Tasche zurück nach Vietnam zu gehen. Der Rest stellte sich auf harte Zeiten ein – und blieb.
Tausende machten sich selbstständig, mit Kiosken, Imbissen, Nagelstudios, Krimskrams und Lebensmittelläden, gerade in Lichtenberg, einem Problemviertel voller Plattenbauten, Neonazis und Stasi-Rentnern. Nicht alle fanden einen legalen Weg, sich über Wasser zu halten und zu wohnen. In den heruntergekommenen Häusern an der Rhinstraße etwa, gleich um die Ecke vom Dong Xuan Center, sammelten sich von der Geschichte überrollte Vertragsarbeiter. Um die 1500 Vietnamesen hausten hier in überbelegten Bruchbuden, handelten auf den Gängen mit Gemüse und Gekochtem, vertickten geschmuggelte Zigaretten an den Bahnhöfen und wurden von vietnamesischen Banden abkassiert.
Der Kommissar
"Allein mit Zigarettenhandel wurden 1994 etwa 100 Millionen Mark Gewinn erzielt", sagt Kriminaloberkommissar Frank-Uwe Lucask. 1992 sei der erste Bandenführer in Berlin erschossen worden, danach hätten drei Gruppen die Stadt unter sich aufgeteilt. "Zwischen 1992 und 1995 zählten wir 50 Tötungsdelikte im Zusammenhang mit Tabakschmuggel. Das waren zum Teil rituelle Hinrichtungen."
Die Zigarettenmafia schickte ihre Killer in Plattenbauwohnungen und ließ Konkurrenten mit doppeltem Kopfschuss erledigen. Jeder Vietnamese galt damals als potenziell kriminell. Das Berliner LKA gründete eine "Ermittlungsgruppe Vietnam". Lucask baute Vertrauen zu den Opfern der Banden auf und brachte mit seinem Team und der Hilfe der Vietnamesen einige Killer hinter Gitter – "meistens lebenslang". Unter ihnen auch den Kopf der berüchtigten Ngoc-Thien-Bande, Le Duy Bao, genannt "der Barmherzige".
Lucask schiebt eine alte Visitenkarte über den Tisch im Besprechungsraum der Abteilung 41. "côngan" steht darauf, das vietnamesische Wort für Polizei. Noch heute rufen sie ihn so, wenn er in Lichtenberg unterwegs ist. Falschgeld, Bandenkriminalität und ethnisch geprägte Tätergruppen hat die Abteilung 41 noch immer im Visier – aber längst geht es nicht mehr um Vietnamesen.
Sie seien Freunde für ihn geworden, sagt Lucask. Er schwärmt vom Essen, von den guten Schulleistungen der Kinder, er spricht ein paar Brocken Vietnamesisch. Er kennt genug von ihnen, um ihre Ängste und Sehnsüchte zu verstehen. Kontakt durch Konflikt – so geht das oft in Berlin. Aber selten geht es so gut aus.
Außer mit Zigarettenschmuggel fielen die Nordvietnamesen in den 90er Jahren vor allem als Opfer rechter Gewalt auf. Ihren Fleiß, ihren stillen Kampf um die Existenz nahm niemand wahr. Als aber ein Mob im August 1992 das "Sonnenblumenhaus" in Rostock-Lichtenhagen anzündete, ein Wohnheim für ehemalige Vertragsarbeiter, flimmerten die Bilder verängstigter Vietnamesen tagelang durch die gesamtdeutschen Wohnzimmer. Eine rechtsradikale Band lieferte den Soundtrack nach: "Fidschi, Fidschi, gute Reise." Mehr als 100.000 Kopien der verbotenen Platten seien im Umlauf, schätzt die Bundeszentrale für politische Bildung. "Unter regulären Bedingungen hätten sie so mindestens eine Goldene Schallplatte erhalten."
Der Künstler
Nguyen Xuan Huy ist ein Überlebender. Nicht Neonazis oder ein wütender Mob haben sein Haus angezündet. Den beinahe tödlichen Schlussstrich zog der Maler selbst.
Xuan Huy war der einzige Ausländer, der 1996 an der Kunsthochschule in Halle studierte. Fremd und einsam fühlte er sich, sobald er vor die Tore der Akademie trat. Ein Vietnamese, der freier Künstler werden wollte? Das war beispiellos. "Ich hatte eine lange Krise und wusste nicht, wie es weitergehen soll. Ich war total verloren."
Eines Tages im Jahr 2000 übergoss er all seine Bilder mit Terpentin und zündete sie an. Eine gewaltige Explosion. Xuan Huy kam knapp mit dem Leben davon, die Brandnarben verbirgt er unter den langen Ärmeln seines Pullovers. Er lächelt, wenn man ihn danach fragt. Und sagt dann leise: "Es war wie ein Blackout." Vielleicht habe er damals nicht nur seine Bilder, sondern auch sich selbst zerstören wollen.

Heute ist er ein glücklicher Mensch. Xuan Huy hat sich von allem emanzipiert, was aufgrund seiner Herkunft von ihm erwartet wurde. Geld. Status. Erfolg. Spricht er von Glück, meint er: Freiheit.
In seinem kleinen Atelier in Berlin Kreuzberg malt er so große Bilder, dass man sich fragt, wie sie jemals aus diesem Raum herausgelangen sollen. Nackte, verdrehte Frauenkörper verknäulen sich mit Pferden und Seifenblasen in einer surrealen Szenerie. Ein alter Sessel, ein zugestellter Schreibtisch, dahinter, eingerahmt von Pinseln und Farbdosen, Xuan Huy, der sagt: "In der Malerei suche ich etwas für mich Wichtiges: das Unbeschreibliche, das dahintersteckt." Er fühlt sich nicht mehr sonderbar, es sind ja so viele Menschen auf der Suche in dieser Stadt. "Nirgends habe ich mich je so wohlgefühlt wie in Berlin", sagt er.
Aus einem Verlorenen wurde ein glücklich Suchender, aus Kiosken wurden Supermärkte und aus Imbissen übervolle Restaurants.
Der Szenewirt
Van Tuyen Pham öffnet die Tür zum Lokal Umami am Wasserturm in Prenzlauer Berg – und betritt die Bühne seines Lebens, gebaut aus dunklem Holz, beleuchtet von Lampions aus Papier, beduftet von frischen Kräutern, Blumen und Gewürzen. Alles in diesem Raum hat er entworfen, gesucht und gefunden, bauen, töpfern, brennen lassen, zusammen mit seinem Freund, dem Designer Dikju Bui.
Umami, das ist der Geschmack Nummer fünf. Eine Empfindung, mehr als salzig, süß, sauer und bitter. So, wie Van Tuyens Leben.
Sein zartes, altersloses Gesicht umrahmen pechschwarze Haarsträhnen, um den Hals baumelt ein silbernes Kreuz. Zur Begrüßung bringt er verschiedene Tees aus der Küche, in den Steingutbechern schwimmen Blüten, Beeren, Blätter und Zitronengras. Van Tuyen besitzt zwei Restaurants, beschäftigt 40 Mitarbeiter, und die Gäste stehen Schlange. Das Leben, das er jetzt führt, ist nicht nur ein besseres, nein, es ist ein neues. Ein Geschenk, so sieht er es. Als sein Vater ihn in Vietnam in ein Flugzeug nach Tschechien setzte, war Van Tuyen 14 Jahre alt. Zum Abschied gab der Vater ihm zwei Ratschläge: "Du musst jetzt einfach weiterlaufen und darfst nicht weinen. Dort, wo du irgendwann lebst, sollst du fleißig arbeiten."
Am 2. September 2002 erreichte der Junge die Kreisstadt Annaberg-Buchholz im Erzgebirge. Fünfmal hatte er zuvor versucht, die Grenze nach Deutschland zu überqueren, viermal die Polizei ihn aufgegriffen und zurückgeschickt. Nun saß er in einem Kinderwohnheim, niemand verstand seine Sprache. "Ich weinte jeden Tag."

Weiterlaufen und nicht weinen, das hatte er verstanden. Und er gehorchte, auch in Deutschland. Van Tuyen brannte durch. "Ich habe auf der Straße gelebt. Wo sollte ich hin?" Immer zum Tet-Fest, dem vietnamesischen Neujahr, rief er seinen Vater an und erzählte, er feiere gerade in Berlin. Dabei hatte er nicht einmal eine Nudelsuppe.
Irgendwann fand er Menschen, die ihm halfen, mal schlief er bei den Jesuiten, mal bei einer katholischen Familie. So rutschte er durch, gegen alle Regeln und Gesetze. Van Tuyen springt jetzt auf, läuft in die Küche, bringt Suppe und ein Dessert aus schwarzem Klebreis, Kokosmilch und frischer Mango.
Seit den 70er Jahren reihen sich Vietnamesen ein in den Alltag der Stadt. Die Boat People aus dem Süden flohen in den Berliner Westen, die Vertragsarbeiter aus dem Norden wurden in den Osten geschickt – und ihre persönlichen Schicksale gingen allmählich auf im großen Ganzen. Doch bis heute pocht in den Köpfen und Herzen: der Unterschied.
Der Blumenhändler
Dieses Gefühl lässt Hoa Bui Duc oft nicht schlafen, diese Gefühl, der Fremde zu sein, obwohl er sich doch längst als Deutscher fühlt.
Vor 17 Jahren eröffnete er mit seiner Frau Thi Minh Nguyet Nguyen einen Blumenladen an der Frankfurter Allee. 2013 kauften sie ein Haus. Sie sind Unternehmer mit Eigenheim und Kindern, Steuerzahler, ihre Söhne sind hier geboren: Hoang, Student an der Technischen Universität, und Long Bill, Gymnasiast, Berliner Jungs, sie sprechen kaum noch Vietnamesisch. Im Juni 2015 nahmen Bui Duc und seine Frau die deutsche Staatsbürgerschaft an. Sie alle haben sich also wirklich auf Deutschland eingelassen. Und was machen die Deutschen daraus?
Sie sehen: schmale Augen. Und denken: Ausländer.
Dieses Gefühl quält ihn.
Es ist Dienstag früh um vier. Bui Ducs schwarzer VW Transporter hält vor Halle 13 des Blumengroßmarkts. Zwischen müden Menschen in Fleecepullovern und Gummistiefeln steigt ein gut gelaunter Bui Duc aus. Er trägt Tweedjackett und Schiebermütze. Er hat seine Ware bei Exotic Garden vorbestellt. Auf einem Rollregal schiebt er Trommelstöcke, Ranunkeln, Rosen, Tulpen und Gerbera zur Kasse.

Seine Frau übernimmt die Frühschicht daheim bei den Jungs und steht ab 8 Uhr im Blumengeschäft. Dort bleibt sie bis 18 Uhr. Sie hat in Hanoi Wirtschaft studiert, Bui Duc an der Berliner Humboldt-Uni Jura. Sie hatten keine Zeit, auf gute Jobs zu warten, sie mussten Geld verdienen. Tagsüber gibt Bui Duc Deutschunterricht. Anschließend, von 18 bis 20 Uhr, steht er im Blumenladen.
In der Nachbarschaft der Bui Ducs leben etwa 20 vietnamesische Familien in ihren Eigenheimen, alles Akademiker. "Wir treffen uns und reden. Wir machen uns Sorgen um unsere Kinder. Sie denken wie Deutsche. Sie sehen aber wie Ausländer aus. Und die werden nur schwer akzeptiert. Vielleicht werden sie Unrecht erfahren."
Herr Bui Duc sucht weiter das Glück
2016 gingen das Ehepaar und ihr großer Sohn zum ersten Mal ins Wahllokal und gaben ihre Stimmen ab. Sie wählten die SPD – und erfuhren am Abend, dass in ihrem Bezirk Marzahn-Hellersdorf die AfD stärkste Partei geworden war. "Wir fühlen uns von denen abgelehnt. Was bringt die Zukunft?", fragt Bui Duc.
So ziehen die Tage dahin, werden zu Monaten, werden zu Jahren. Der Blumenhändler ist jetzt 51. "Im Moment möchte ich so weiterleben. Ich bin wie mein Name, Hoa bedeutet Harmonie, ich bin leicht zufrieden mit dem, was ich habe. Meine Frau ist auch so."
Er hat viel erreicht in seinem Leben, aus eigener Kraft und gegen alle Widerstände. Doch auch Herr Bui Duc sucht weiter das Glück. Und dass er es manchmal nicht finden kann, liegt auch an – uns.
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