"Sie haben eine Bombe an Bord", so lautete der Funkspruch der belarussischen Flugsicherung an die Besatzung einer Boeing 737-800 von Ryanair, die sich am 23. Mai 2021 auf dem Flug vom Flughafen Athen-Eleftherios Venizelos kurz vor ihrem Ziel befand, dem Airport Vilnius in Litauen.
Obwohl die Strecke zum Flughafen der litauischen Hauptstadt kürzer als zu dem von Minsk war, führten die Piloten eine Kursänderung durch, begleitet von einem Kampfjet des Typs MiG-29 der belarussischen Luftwaffe und landeten in Minsk. Dort wurden zwei Passagiere festgenommen: der im Exil lebende Regierungskritiker Roman Protassewitsch und seine aus Russland stammende Freundin Sofia Sapega.
Der Vorfall rief international eine Welle der Empörung hervor. "Belarus nutzte seine Kontrolle über seinen Luftraum, um eine staatlich gesteuerte Entführung durchzuführen. Daher kann die Sicherheit von Flügen durch den belarussischen Luftraum nicht mehr gewährleistet werden", sagte damals Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission.
Akt der Luftpiraterie
Seit Ende Mai umfliegen westliche Fluggesellschaften den Luftraum über Belarus. Außerdem wurde der staatlichen Fluggesellschaft Belavia Landerechte entzogen und Leasingverträge für deren Flugzeuge gekündigt. Die International Civil Aviation Organization (ICAO), eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Hauptsitz im kanadischen Montreal, sah in der "offenbar erzwungenen Landung" einen Verstoß gegen das Chicagoer Abkommen für Zivilluftfahrt und hatte eine Untersuchung angekündigt.
Deren Bericht, der noch vertraulich gehandhabt wird, konnten Journalisten des "Wall Street Journal" einsehen. Unter der Überschrift "UN-Bericht über die Umleitung eines Ryanair-Flugs in Belarus wirft neue Fragen auf" stärkt der Artikel die Vermutung, dass die Bombendrohung inszeniert war. Die Fluglosten hatten gegenüber der Ryanair-Crew behauptet, dass die Bombendrohung der Hamas an mehrere Flughäfen gegangen war. Doch die Drohung wurde "aus Belarus und nicht von der palästinensischen Terrorgruppe Hamas gesendet, wie Belarus sagte", heißt es in dem ICAO-Bericht. Die Hamas habe eine Beteiligung umgehend bestritten.
Digitale Protokolle, Telefonate und Videos gelöscht
Minsk gab dem ICAO-Team auch keine überzeugenden Beweise, um seine Behauptung einer "terroristischen Bombendrohung gegen einen Flug mit einem gesuchten Dissidenten zu untermauern". Im Gegenteil: Die Log-Datei des ersten angeblich um 9.25 Uhr per E-Mail eingegangen Drohschreibens wurde gelöscht. Um 12.30 Uhr war die Cockpit-Crew von den Fluglotsen über eine Bombe an Bord informiert worden.

Die ICAO-Ermittler erklärten, dass sie den Erhalt der zweiten E-Mail von 9.56 Uhr nur anhand von Informationen des in der Schweiz befindlichen E-Mail-Servers des Absenders bestätigen konnten. "Der Erhalt der ersten E-Mail ist entscheidend, um die Grundlage für die Übermittlung der Bombendrohung von Minsk an die Flugbesatzung zu erklären."
Außerdem verweigerte die Luftfahrtbehörde von Belarus die Herausgabe von mitgeschnittenen internen Telefongesprächen und Zeitangaben sowie von Videomaterial der Überwachsungskameras auf dem Vorfeld und im Terminal, die das Austeigen der beiden festgenommen Personen zeigen – auch dieses Material sei inzwischen gelöscht.
Die ICAO-Untersuchung stellt auch fest, dass es nicht möglich war, den am 23. Mai im Dienst befindlichen Fluglotsen zu treffen, der mit der Ryanair-Crew Funkkontakt hatte, und ihn zu befragen. Nach Angaben der Behörden "sei der Mitarbeiter nach den Sommerferien nicht zu seinem Arbeitsplatz zurückgekehrt", und es war nichts "über seinen aktuellen Aufenthaltsort zu erfahren, um ihn kontaktieren zu können."
Am 31. Januar wird das Führungsgremium von 36 ICAO-Mitgliedern zusammenkommen und über weitere Maßnahmen gegen Belarus auf Grundlage des Berichts zu entscheiden.
Quellen: "Wall Street Journal", "The Aviation Herald", www.icao.int
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