Druck auf den Ohren, 47 Sekunden hinauf zu den Etagen 100 bis 102, hinauf auf 380 Meter - und dann diese Aussicht. 360 Grad Rundumblick auf New York. Manche Besucher klatschen begeistert, wenn sie das erste Mal an den Panoramafenstern stehen, andere genießen in Schweigen versunken. Zu ihren Füßen liegen die fünf Stadtbezirke Bronx, Queens, Brooklyn, Staten Island und Manhattan - Heimat von achteinhalb Millionen Menschen. "Concrete Jungle Where Dreams Are Made Of", ein Betondschungel der Träume, wie Rapper Jay-Z textete.
Ein kleiner Junge aus Schwaben sieht in der Tiefe den Männern und Frauen nach, die von der Wall Street zur U-Bahn hasten, und sagt zu seinem Vater: "Guck, die sehen alle wie meine Lego-Männle aus."
Nach rund elf Jahren Bauzeit strömen wieder Besucher ins One World Trade Center (1 WTC), vorbei am Schauplatz des Terrors, wo fast 2800 Menschen starben, als Attentäter am 11. September 2001 mit Flugzeugen in die Twin Towers rasten. Alltag werde hier nie wieder möglich sein, glaubten viele New Yorker.
Gut, dass sie sich geirrt haben
Tatsächlich wird Lower Manhattan gerade schöner und bunter als je zuvor. Neue Geschäfte ziehen ein. Noch sind viele Schaufenster verhängt, aber Schilder erzählen, wer einziehen wird: Gucci, Omega, Hermès. An der Uferpromenade zum Hudson eröffnete Sternekoch Joël Robuchon ein Gourmetrestaurant. Daneben hocken Bauarbeiter und Banker bei Pizza und Burger.
Vor 9/11 lebten etwa 20.000 Menschen im Viertel, nach Börsenschluss war Feierabend im Quartier. Heute wohnen hier über 60.000, und es werden gerade noch zehn weitere Appartementhochhäuser hochgezogen. Rund um Ground Zero sind vier Bürotürme entstanden, ein fünfter wächst gerade in den Himmel. Auch ein neuer Bahnhof für Millionen Pendler wird bald eröffnet. Etwa 20 Milliarden Dollar kosten all die Großprojekte.
Auch Stararchitekt Daniel Libeskind wohnt am 1 WTC. Er geht oft zu Fuß in sein nahe gelegenes Büro. Der Weg führt ihn dann am 9/11 Memorial vorbei, an den zwei riesigen Brunnen, die auf den alten Fundamenten der Zwillingstürme errichtet wurden. Libeskind entwarf den Masterplan für die Bebauung der neun Fußballfelder großen Fläche. Er sorgte dafür, dass mehr als die Hälfte davon ein Ort für die Öffentlichkeit wurde.
Schreibtisch-Wabe für 750 Dollar im Monat
Der 69-jährige New Yorker ist stolz auf sein Werk. Er sagt: „Für mich war das Projekt sehr persönlich." Sein Vater arbeitete in einer Druckerei ganz in der Nähe. Als Jugendlicher habe er ihn oft besucht. Das Leben in den Straßen New Yorks habe ihn schon damals gefangen genommen. Eine Stadt brauche Platz zum Leben für alle. Der Architekt wollte sogar Gärten im 1 WTC anlegen. Aber Hauptinvestor Larry Silverstein entschied sich stattdessen für vermietbare Flächen.
In der 85. Etage des One World Trade Center auf gut 10.000 Quadratmetern zum Beispiel zog die Firma Servcorp ein. Das Unternehmen ist weltweit einer der größten Vermieter von Büros. Eine Schreibtisch-Wabe ohne Aussicht kostet hier 750 Dollar im Monat.
Melanie Gladwell, Chefin bei Servcorp in New York, spricht offen über die Ängste mancher Kunden vor einem neuen 9/11. "Denen sage ich, wir arbeiten im sichersten Gebäude der Welt. Die Betonwände im Treppenhaus und Fahrstuhlschacht sind ein Meter dick." Viel lieber aber erzählt Gladwell, wie sie hier oben zur Expertin für Wetterphänomene wurde. "Manchmal hüllen uns dichte Wolken ein, ohne dass es hier oben regnet. Unten auf dem Platz aber schüttet es, und die Menschen spannen ihre Regenschirme auf."
Mit dem Aufzug zurück in die Wirklichkeit
An klaren Tagen kann man bis zu 80 Kilometer weit sehen - gerade passiert das Kreuzfahrtschiff "Queen Mary 2" die enge Stelle an der Verrazano-Narrows-Brücke. Und man kann nicht anders, als ihr nachzuschauen. Wer bei der Arbeit nicht abgelenkt werden will, muss sich mit dem Rücken zur Aussicht setzen.
Oben, im One World Observatory, warten jetzt alle, dass die Stadt ihre Lichter anknipst. Da, endlich, leuchtet ein Baseballfeld am Hudson grellgrün im Flutlicht. Die Besucher stehen still und suchen nach immer neuen Details.
Später bringt der Aufzug sie zurück in die Wirklichkeit. Das Wasser fällt laut in die scheinbar unendliche Tiefe der Memorial-Brunnen. Eine Frau sitzt da, versunken zum Gebet im Gedenken an die Toten.