Urlaubs-Enttäuschung Umstrittenes Paris-Syndrom: Französische Hauptstadt soll japanische Touristen krank machen

Zwei japanische Touristen am Eiffelturm
Neben der Enttäuschung über das Urlaubsziel können auch Sprachbarrieren, kulturelle Unterschiede sowie Erschöpfung durch die Reise beim Paris-Syndrom eine Rolle spielen
© Hans Lucas / Imago Images
Wenn sich das romantische Urlaubsziel als hektische Großstadt entpuppt, ist die Enttäuschung groß. Im Falle der französischen Hauptstadt sogar so groß, dass die Psyche darunter leiden kann. An dem Paris-Syndrom sollen vor allem Japaner erkranken.

Keine verliebten Pärchen vor dem Eiffelturm, keine romantischen Spaziergänge mit Akkordeon-Klängen im Hintergrund und keine Gourmet-Crossaints in malerischen Cafés. Stattdessen Lärm, Verkehr, Abgase und gestresste Menschen. Paris unterscheidet sich kaum von anderen Großstädten. Dennoch wird kein anderer Ort so sehr romantisiert und verklärt wie die französische Hauptstadt. Treffen diese Idealvorstellungen auf die Realität, sind viele Touristen deprimiert. Besonders, wenn die Reisenden aus Japan kommen. Bei den Urlaubern aus dem asiatischen Land soll die Enttäuschung über Paris sogar Psychosen auslösen können.

Halluzinationen, Größenwahn und Angst

Das sogenannte Paris-Syndrom ist erstmals 2004 von dem in Frankreich tätigen Psychiater Hiroaki Ota beschrieben worden. Der japanische Arzt lebt seit 1987 in der französischen Hauptstadt und hat das Phänomen immer wieder bei Urlaubern aus seinem Herkunftsland beobachtet. Die Bandbreite der Symptome ist lang: Depressive Verstimmungen, Verfolgungs- und Größenwahn, Halluzinationen, Angst, Panikattacken, eine verfremdete Wahrnehmung sowie eine Beeinträchtigung oder sogar den Verlust des Persönlichkeitsbewusstseins zählt "Deutschlandfunk" in einem Bericht über das Paris-Syndrom auf. Die "Süddeutsche Zeitung" berichtet etwa von einem Mann, der sich plötzlich für den Sonnenkönig Ludwig XIV. gehalten hätte. Oder von einer Frau, die davon überzeugt gewesen sei, dass sie von Mikrowellenstrahlen angegriffen werde.

In mehreren Fällen habe die japanische Botschaft Krankentransporte zurück in die Heimat organisieren müssen. Bei 25 Prozent der Betroffenen sei laut Angaben des Gesundheits-Onlineportals "PraxisVita" ein Klinikaufenthalt zur Behandlung nötig. Meist aber würden Zeit und Ruhe ausreichen, um die Symptome zu lindern. Ota bezeichnete das Krankheitsbild als "vorrübergehende psychische Störung". Verlässliche Zahlen liegen jedoch nicht vor. "PraxisVita" geht von 20-24 Fällen pro Jahr aus, "Der Standard" von zehn bis 20. Ota selbst dokumentierte laut "Süddeutscher Zeitung" 63 Paris-Syndrome innerhalb von 16 Jahren, im Durchschnitt also vier pro Jahr. Manche Medien berichten von Dutzenden oder Hunderten Fällen im Jahr.

Romantische Traum-Vorstellung kollidiert mit Realität

"Das Paris-Syndrom beschreibt einen Japaner, typischerweise der Mittelklasse, der sein ganzes Leben auf diese Reise ins alte Europa spart", erklärt Bernard Odier von der "Association de Santé Mentale" im Gespräch mit "Deutschlandfunk". Um sich zum Sparen zu motivieren, idealisiere der Japaner die Reise. "Wenn er dann tatsächlich seinen Sehnsuchtsort kennenlernt, kann es sein, dass er von der Realität enttäuscht wird. Er wird konfrontiert mit der sogenannten Deidealisierung, er hat sich die Reise so lange in den schönsten Farben ausgemalt und dann ist der Sturz tief."

Japanische Touristen vor der Notre-Dame
Japanische Touristen in Paris. Viele von ihnen sparen jahrelang, um sich den Traum von der Reise in die französische Hauptstadt zu erfüllen.
© akg-images/ / Picture Alliance

Japanische Urlauber haben oft jahrelang vor der Reise die klassische Traum-Vorstellung von Paris kultiviert. Szenen aus der Film- und Werbeindustrie, aus Büchern und sozialen Medien erzeugen ein märchenhaftes Bild der französischen Hauptstadt. Als jüngstes Beispiel nennt der "Guardian" die neue Staffel des Netflix-Hits "Emily in Paris". Die Serie ist bereits in der Vergangenheit wegen der stereotypischen Bilder, die die Produzenten von der Stadt und den Franzosen zeichnen, aufgefallen. Eine Kritikerin prognostiziert gar eine "neue Generation" des Paris-Syndroms. 

Auch der Kultur-Schock kann das Paris-Syndrom auslösen

Die durch Medien- und Filmdarstellungen geschürten, romanischen Vorstellungen von Paris seien in keinem anderen asiatischen Land so sehr verbreitet wie in Japan. "Die Realität, dass es sich hauptsächlich um eine normale Stadt handelt, gepaart mit den spürbaren Unterschieden in Verhalten und Manieren zwischen der japanischen und der französischen Kultur führen zu einem intensiven Kulturschock", erklärt der "Guardian".

In Paris sind japanische Urlauber oft zum ersten Mal mit neuen Umgangsformen konfrontiert, die in der heimischen, von Höflichkeit geprägten Kultur undenkbar wären. In Japan herrschen strikte Kommunikationsregeln, beispielsweise zeige man seine Emotionen nicht in der Öffentlichkeit. Im Gegensatz dazu können die Franzosen auf die Ausländer unhöflich und schroff wirken. "Die Franzosen machen deutlich, wenn sie wütend sind, und die Japaner beziehen das dann auf sich, denken, dass sie etwas falsch gemacht und die Regeln nicht richtig befolgt haben", erläutert die Psychologin und Psychoanalytikerin Olivia Akiko Goto-Gréget im Gespräch mit "Deutschlandfunk".

Europäer hingegen seien mit der französischen Kultur vertraut. Zudem ist Paris für europäische Touristen innerhalb weniger Stunden zu erreichen. Mit einem Billig-Flug oder per Bahnfahrt lässt sich die Stadt für einen Wochenende-Trip bequem erreichen. Die "Stadt der Liebe" wird für Europäer deshalb selten zum mystischen Sehnsuchts-Ort. Sind japanische Touristen an ihrem Traum-Ziel angekommen, ziehen sie – trotz der langen Anreise – ein straffes Besichtigungsprogramm durch. Laut "PraxisVita" können neben den psychischen Symptomen auch körperliche Beschwerden auftreten, etwa Schwindel, Schwitzen, Herzrasen.

Dazu das enttäuschende Stadtbild. Lärm, Chaos, Taschendiebe, Touristenfallen und Müll auf den Straßen – für eine Kultur, in der Sauberkeit eine wichtige Rolle spielt, kaum denkbar. "Frankreich steht in Japan für Luxus, teure Marken, höfliche Männer, saubere Straßen, historische Architektur, Kunst, alles was elegant und feinsinnig ist. Und wenn sie nach Paris kommen, sehen sie, dass das keineswegs nur so ist", sagt Olivia Akiko Goto-Gréget, die bereits in beiden Ländern gelebt hat.

Umstrittenes Krankheitsbild

Am Paris-Syndrom gibt es immer wieder Kritik. Das Krankheitsbild ist umstritten. Die WHO hat das Phänomen nicht in ihren offiziellen ICD-Index aufgenommen. Das Syndrom ist somit nicht als Diagnose anerkannt und gilt daher auch nicht als klinisch nachgewiesene Krankheit. Hiroaki Ota führte in seinen Untersuchungen laut Bericht der "Süddeutschen Zeitung" außerdem an, dass viele der Betroffenen bereits vor ihrer Reise an psychischen Krankheiten gelitten hätten. "Bei vielen schweren Fällen ist es wahrscheinlich, dass Reisende eine nicht diagnostizierte psychiatrische Erkrankung oder eine Prädisposition für Psychosen hatten", schreibt auch die BBC.

Japanische Touristen in Paris
Von 3243 Bewertungen über die "Stadt des Liebe" war fast jede fünfte (18 Prozent) negativ, fand eine Studie aus dem Jahr 2021 heraus.
© Andia / Imago Images

Der Paris-Frust scheint bei Japanern besonders groß zu sein, die falschen Vorstellungen über die französische Hauptstadt sind aber weltweit verbreitet. Während Urlaubern bei manchen Reise-Zielen die Schattenseiten bereits vorher bewusst seien, halten sich die träumerischen Fantasien über Paris nach wie vor hartnäckig, mutmaßt "der Standard". Die Enttäuschung ist umso bitterer. Eine Untersuchung des Gepäckaufbewahrungsnetzwerks Radical Storage, über die das "Redaktionsnetzwerk Deutschland" berichtet hat, kam zu dem Ergebnis, dass fast jede fünfte Google-Bewertung über Paris negativ ist. 25 Prozent davon fanden die französische Hauptstadt "schrecklich", elf Prozent beschrieben sie als "überbewertet" und "enttäuschend".

Ob es sich bei dem Paris-Syndrom tatsächlich um eine psychische Krankheit handelt, ist fragwürdig. Daran, dass zerplatze Träume und ein möglicher Kulturschock die Traumreise zu einem niederschmetternden Erlebnis macht, besteht jedoch kein Zweifel.

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