Der Name täuscht: Um Victorias ältesten und bereits 1892 gegründeten Nationalpark Tower Hill zu besuchen, geht es nicht bergauf, sondern hinab in einen kreisrunden Talkessel. Eine schmale Straße führt in der Nähe der Küstenstadt Warrnambool an Felsen vorbei in die Tiefe.
Der 90 Meter tiefe Krater mit heute dichtem Baumbestand, mehreren Seen und Vulkankegeln hat einen Durchmesser von drei Kilometern und geht auf einen Ausbruch vor 32.000 Jahren zurück. In diesem Biotop lässt sich nicht nur die Natur erwandern, sondern durch das Visitor Centre und auf vier Rundwegen viel über die indigene Kultur erfahren.
"Das ist Emu-Shit", sagt Emily und zeigt auf frische Losung am Wegesrand. Die Frau mit der Baseballkappe und der australischen Aboriginal-Flagge auf ihrem T-Shirt gehört zum Team von Aborigines, die Führungen durch dichte Fauna anbieten. Unter einem Eukalyptusbaum hebt sie grünliche Köddel auf: "Das ist der einzige Shit von einem Tier, der gut riecht." Hoch oben im Wipfel sitzt regungslos ein Koala und schläft.
"Listen and learn"
In Tower Hill kann man auf engem Raum die Vielfalt der für Australien so typischen Flora und Fauna beobachten. "600 Kängurus, 70 Koalas und 80 Emus leben hier", sagt sie. Oft läuft Emily mit Schülergruppen durch den Park. Das pädagogische Motto der Angehörigen des Gunditjmara-Stammes lautet "Listen and Learn". Sie öffnet den Besuchern des Parks Augen und Ohren.
Ihr Wissen hat sie von ihren Vorfahren, vor allem von ihrem Großvater überliefert bekommen. Beim Rundgang pflückt sie unscheinbaren Beeren von Sträuchern und zupft Blätter, zum Beispiel von der Schwarzholz-Akazie. Deren Blätter zerreibt sie in der Hand, vermischt die Paste mit Wasser, wodurch ein grün-milchiger Schaum entsteht, der antiseptisch und schmerzlindernd wirkt.
Um einen Begriff für das seit Generationen oral tradierte Wissen zu bekommen, zieht sie ein Rollbandmaß aus der Tasche. "Ein Zentimeter entspricht 100 Jahren", erklärt sie und markiert nach 20 Zentimetern den Beginn unserer Zeitrechnung. Doch die Geschichte der indigenen Völker Australiens reicht viel weiter zurück. Sie klemmt den Anfang des Zentimeterbandes fest und wickelt Meter um Meter ab. Nach acht Metern stoppt sie: "Jetzt sind wir bei 80.000 Jahren angelangt. So weit reichen die ältesten Felszeichnungen von uns zurück." Die Gunditjmara waren bereits sesshaft, betrieben Aalfallen in den Flüssen und widerlegen damit die Behauptung, dass die australischen Ureinwohner alle als Nomaden lebten.
Wie ein natürlicher Zoo: Tower Hill
Doch Tower Hill war nicht immer so idyllisch. Denn im frühen 20. Jahrhundert verkam der auch geologisch besondere Ort zur Müllkippe. Erst auf die Initiative einzelner Aktivisten vor 50 Jahren begann die Rückbesinnung auf die Idee des Nationalparks, es wurde aufgeräumt, aufgeforstet und wiederbelebt.
Als Grundlage für das Renaturierungsprojekt wurde auf ein Ölgemälde zurückgegriffen, das der in Wien geborene Landschaftsmaler Eugene van Guerard 1855 von der grünen Natur Tower Hills angefertigt hatte. So ließ sich vor allem der Baum- und Buschbewuchs rekonstruieren und der in sich geschlossene Krater mit den entsprechenden Tieren zu einem natürlichen Zoo umnutzen.
So steht Tower Hill auch für den Bruch in der australischen Geschichte, für den schonungslosen Umgang der europäischen Einwanderer mit Natur und Aborigines. Für Emily sieht Tower Hill als ein positives Beispiel. "Gerade junge Leute brauchen Inspiration und ein Vorbild, dass man etwas erreichen und zum Guten hin verändern kann", sagt die Mutter von fünf Kindern.
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