Ich wundere mich: Die schwarz-rote Aboriginal-Fahne mit der gelben Sonne in der Mitte steht in den Carlton Gardens auf Halbmast. Warum? "Heute ist der Jahrestag des Sorry Day", erklärt mir Di-Di Vaha'akolo, mit der ich am Eingang des Melbourne Museum verabredet bin.
Der 13. Februar 2008 war ein wichtiger Tag in der Geschichte des Landes. Der damalige australische Premierminister Kevin Rudd hatte sich in einer Rede vor dem Parlament in Canberra bei den Aborigines entschuldigt, "für die Gesetze und die Politik der vorangegangenen Parlamente und Regierungen, die unseren australischen Mitbürgern großen Schmerz, Leid und Schaden zugefügt haben", wie der Labor-Politiker es formulierte.
Es war ein Moment, auf den die indigene Bevölkerung jahrzehntelang gewartet hatte: der höchst seltene Kniefall eines Politikers. Denn zwischen 1920 und bis in die siebziger Jahre hinein waren 35.000 Aborigines-Kinder von Weißen zwangsadoptiert worden.
"Auch meine Großmutter wurde im Alter von elf Jahren von der Polizei aus dem Schulunterricht herausgenommen, von ihren Eltern getrennt zu einer Non-Aboriginal-Familie gegeben," erzählt mir Di-Di. Sie ist Mitarbeiterin im First Peoples Department des Melbourne Museum, hat mütterlicherseits Taungurong-Vorfahren aus Victoria; die Familie ihres Vaters kommt aus Tonga im Südpazifik.
In dem vor 20 Jahren errichteten Neubau und angeblich größtem Museum auf der Südhalbkugel gibt es neben den Science-Abteilungen auch Ausstellungen zu Themen wie Dinosaurier, Design, Mode, Klimawandel - und die Bunjilaka-Abteilung, die den First People of Victoria gewidmet ist.
Bunjilaka Aboriginal Cultural Centre
Zu Beginn stehen wir vor einem bunt-fröhlichen Wandgemälde mit Tieren und einer langen roten Schlange mit Namen wie Bangerang bis Woiwurrung auf ihrem Rücken. Diese stehen für alle 40 indigenen Völker, die einst in Victoria lebten. Die Eingangsszenerie wird mit Geräuschen aus dem Busch und Musik untermalt.
"Wominjeka", willkommen in der Sprache der hiesigen Wurundjeri People, sagt Di-Di und steht vor einer dreidimensionalen Karte des Bundesstaates Victorias, aus der mehr als drei Dutzend kleine Stäbe ragen. Tippt man nur einen an, hört man die Sprache der jeweiligen Ethnie – eine ungeheure Vielfalt auf engem Raum. Denn der Bundesstaat Victoria ist von der Fläche ein Drittel kleiner als Deutschland.
Gleich neben der interaktiven Sprachkarte hängen hunderte von Porträtfotos an mehreren Wänden, die von hinten beleuchtet sind. "Generations" nennt sich dieser Teil mit großen und kleinen Gesichtern, neuen Farbfotos von Menschen jeden Alters und Vergrößerungen von uralten Schwarzweißfotos. Auf eines zeigt Di-Di nicht ohne Stolz: "Das ist meine Urgroßmutter, eine Wemba-Wemba."
All diese Bilder erzählen auf Knopfdruck Geschichten oder Texte, die auf Briefen, Petitionen, Regierungsanfragen oder Interviews zur Oral History der First Peoples basieren. Alle Protagonisten eint, dass sie Koories sind - Aborigines aus dem Südosten Australiens. "Diese Wand verändert sich ständig, denn immer wieder entdecken Besucher des Museums hier ihre Verwandte, bringen uns neue Fotos und teilen mit uns die von Generation zu Generation weitergegebenen Geschichten", sagt Di-Di.
Nie wirkt die Ausstellung beim Rundgang überladen, die Exponate beschränken sich aufs Wesentliche. Museumspädagogisch ist die Abteilung, die in Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Elders der Yulendj Group aufbereitet wurde, auf dem neusten Stand der Vermittlungstechnik.
Eine wahre Geschichte – vor 37.000 Jahren
Di-Di erzählt mir die Schöpfungsgeschichte der Gunditjmara, eines Riesen mit dem Namen Budj Bim, dem ein Landstrich im Westen Victorias so sehr gefiel, dass er sich dort niederließ und in einen Vulkan verwandelte. Seine Zähne wurden zu Lavaströmen, so besagt die Legende.
Jüngste Forschungsergebnisse ergaben, dass der Ursprungsmythos auf einer wahren Begebenheit beruhen könnte. Nach der Gesteinsanalyse der Geologin Erin Matchan von der Universität Melbourne war demnach der Vulkan Budj Bim vor 37.000 Jahren ausgebrochen. Aber schon vor 70 Jahren war in dem Landstrich unter der Lavaschicht eine Axt gefunden worden - ein Beweis, dass bereits Menschen in der Gegend lebten und Zeugen des Naturschauspiels waren. So dürfte es sich um eine Geschichte handeln, die über 1800 Generationen hinweg weitererzählt wurde, länger als jeder andere.
Seit 2019 gehört Budj Bim National Park zur Welterbeliste der Unesco. Vor allem aus einem anderen Grund: Die nicht als Nomaden, sondern bereits in Dörfern lebenden Gunditjmara legten hier vor tausenden von Jahren Kanäle an, bauten Fischtreppen, flochten Reusen, betrieben Fischzucht und schufen damit eines der ältesten Aquakultursysteme weltweit. "Viel älter als die ägyptischen Pyramiden", merkt Di-Di an.
Der Wendepunkt in der Geschichte
Mit der Eroberung Australiens ab 1770 durch den englischen Seefahrer James Cook, der späteren Kolonialisierung des Kontinents und dem Völkermord an den Aborigines wurde die Tradition der mündlichen Überlieferungen der Urbevölkerung bis auf wenige Ausnahmen unterbrochen.
Dieses düstere Kapitel der jüngeren australischen Geschichte klammert die Bunjilaka-Ausstellung nicht aus. Gemeint sind die sogenannten "Black Wars", die Feldzüge gegen die Aborigines. Selbst für Victoria gibt es eine "Massacre Map", eine Karte mit den Kriegsschauplätzen gegen die First Nations im 19. Jahrhundert. Doch die meisten Bewohner wurden durch Krankheiten getötet, wie mir Di-Di erzählt. "Die Briten verteilten Decken, die mit Pockenviren verseucht waren." Schwangere Frauen und Kinder starben zuerst.
"Shared History" nennt sich dieser Teil des Rundgangs, der mich am stärksten beeindruckt und mit dem Kampf um Bürgerrechte und der teilweisen Rückgabe des Bodens an die Aborigines endet. Die schwierigen juristischen Auseinandersetzungen reichen bis in die Gegenwart.
Ob es für sie einen Wendepunkt in der jüngsten Geschichte Australiens gab, frage ich Di-Di. "Ja, das war die Entschuldigung durch Premierminister Kevin Rudd vor genau zwölf Jahren", sagt sie. Vorher habe der Versöhnungsprozess nicht funktioniert, weil immer nur die eine Seite an den Verhandlungstisch kam.
Am Ende der Ausstellung verabschieden wir uns, und Di-Di gibt mir mit auf den Weg: "Das hier ist nicht nur meine Geschichte, das ist die Vergangenheit aller Australier."
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