Es gibt Spiele im Fußball, die zwar als Testspiele annonciert, aber dann doch mehr als nur das sind. Oft können sie gar nichts dafür, äußere Umstände – man mag sie auch Weltlage, Zufall oder Schicksal nennen – sorgen mit einem Mal für eine Bedeutungsaufladung, die den sportlichen Rahmen weitet.
Das sogenannte Testspiel, das die deutsche Nationalmannschaft am Abend in Nürnberg gegen die Ukraine bestreitet, dürfte ein solcher Fall sein. Und natürlich gibt es im spröden Vokabular der Fußballberichterstattung ein Wort, das dann überstrapaziert wird. Das Wort lautet: ausgerechnet.
Kein schönes Wort, eine Wortkrücke vielmehr, eine Hilflosigkeitsfloskel, mit der man das, was da passiert ist oder passieren wird, verständlich zu machen, ja, in einen Kontext zu setzen versucht.
Ausgerechnet er, als habe es so kommen müssen
Wenn ein Stürmer ein Tor schießt gegen den Verein, bei dem er früher seine halbe Karriere verbracht hat, heißt es: ausgerechnet er. Als habe es so kommen müssen. Was natürlich eine Lüge ist. Und als Neuer im Halbfinale der Champions League gegen Madrid den Ball kurz vor Ende rausrutschen ließ, da hieß es: ausgerechnet Neuer, der Unfehlbare, die menschliche Krake, der Mann der ewigen Wiederkehr. Ausgerechnet Neuer, der zuvor doch alles wegreflext hatte. Armes Schwein.
Mit Blick auf das Testspiel am Abend, das erste von zweien vor der EM im eigenen Land, ließe sich also sagen: ausgerechnet gegen die Ukraine, dieses Land im Krieg, das sowieso keine Freundschafts-, sondern nur noch Überlebensspiele zu kennen scheint. Jeder Auftritt ein Moralappell an die Heimat unter Bomben, jedes Tor ein trotziges Hurra, jeder Sieg ein Gruß an die Ausharrenden in Kiew, Charkiw, Donezk, Odessa. Fußball, der letzte Rest Normalität für eine Nation, die nicht mehr weiß, was Normalität ist.
Die Spieler, die deutschen wenigstens, werden versuchen, diese Betroffenheitslage irgendwie auszublenden. Die ukrainischen können und dürfen das nicht.
Ein Testspiel dort, wo viele Menschen gerade alles verlieren
Hinzu addiert sich für den DFB aber nun die Flutkatastrophe in Bayern. Ein Testspiel ausgerechnet also im Freistaat, wo etliche Menschen gerade alles verlieren, Hab und Gut und Hoffnung, mancherorts sogar ihr Leben. Der um sich greifende Notstand wird an der Mannschaft nicht ohne Spuren vorbeigehen, allein schon deshalb, weil sie erst vor ein paar Tagen selbst ihr EM-Camp in Herzogenaurach bezogen hat, im direkten Nachrichtenumfeld des Unerträglichen.
Auch wenn die Wassermassen Nürnberg und Umgebung bisher größtenteils verschont und vor allem weiter südlich gewütet haben, die Verzweiflung reicht allemal bis ins Fränkische. Viele Fans, die für das Spiel kommen, merken es an der beschwerlichen Anreise. An den Zügen, die ausgefallen sind, den Umleitungen, die gefahren werden müssen, am Panorama links und rechts der Strecke. Schienen, die Überschwemmungen queren. Als durchführe man eine Seenlandschaft oder kuriose Salinen. Aber das waren mal Dörfer, Straßen, Felder, Wiesen.
Wenn es am Abend über dem Max-Morlock-Stadion in Nürnberg, Gott bewahre, regnet, wird das kein normaler Regen sein, nicht einfach nur Fritz-Walter-Wetter, sondern Wasser auf die Mühlen der Zerstörung. Futter für die Katastrophe.
Eine zarte Flamme der Hoffnung
Man darf davon ausgehen, dass Julian Nagelsmann, der zwar ein junger, aber eben auch reflektierter und durchaus lebensnaher Bundestrainer ist, seine Mannschaft dafür sensibilisiert – wenn die es nicht sowieso schon selbst gemacht hat. Die Devise, sich doch bitte allein auf das Sportliche zu konzentrieren, sie geht heute fehl. Heute spielt die Nationalmannschaft auch ein bisschen für all jene Mitbürger, denen es gerade ziemlich dreckig geht. Das immerhin hat sie, wenn auch auf ganz anderer Art und Weise, mit ihrem Gegner gemein.
Und am Ende geht es, nicht ganz unwichtig, gegen diesen Gegner und allen Überhöhungen zum Trotz dann doch auch noch ums Sportliche. Um ein Ergebnis, das eine Turniereuphorie zulässt oder zumindest darum, dass die zarte Flamme der Begeisterung, die beim Lehrgang im März entfacht wurde, nicht gleich erstickt. Jetzt, da auch das letzte Spiel der regulären Saison abgepfiffen ist, jetzt, wo sich dann doch allenthalben der Eindruck durchsetzt, dass hier bald wirklich eine EM im eigenen Land stattfindet, jetzt, wo in Supermärkten, Kiosken und Drogerien wieder die schwarzrotgeilen Blumenketten feilgeboten werden, die Seitenspiegelkondome, Deutschlandfähnchen und Schminksets, die ganze karnevaleske Basisausstattung von Festmeilenschland, da muss die Mannschaft liefern.
Nach allem, was man hört, sieht und in Herzogenaurach auch auf Halbdistanz mitbekommt, sind die Spieler reichlich willens, ihren Beitrag zu leisten.
Die Fußballnation ist sprunghaft in ihrer Zuneigung zum DFB
Aber Julian Nagelsmann weiß, wie sprunghaft die Fußballnation in ihrer Zuneigung ist. Dass sie Liebe zwar gerne gibt, aber noch schneller entzieht. Im November des vergangenen Jahres hatten zwei wirklich tragisch-triste Auftritte dafür gesorgt, dass man sich selbst gar nichts mehr zutraute und die EM am liebsten abgesagt hätte. Zwei Siege im März inklusive der Rückkehr von Toni Kroos wiederum waren genug, um eine neue Begeisterung zu schüren, die bis heute hält.
So kompliziert die Ausgangslage vor dem Testspiel heute mithin ist, die Lösung wiederum, nicht für alle, aber doch für einige Probleme, klingt einfacher: ein Sieg, am besten einer mit Finesse, mit Verve, mit Überzeugung.
Dann wartet am Freitag in Gladbach Griechenland.
Ohne ausgerechnet.