Deutschland gegen Ukraine Als die Nationalmannschaft eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte ...

Testspiel ohne Tore: Niemand zielt richtig
Völlig losgelöst, auch bei diesem Freistoß: Im Testspiel gegen die Ukraine wollte den Deutschen partout kein Tor gelingen, hier zielt Robert Andrich weit daneben.
© Imago
... da fand sie sich zu einem ungeheuren Chancentod verwandelt. Das ist nur konsequent zum 100. Todestag von Kafka, der dem Testspiel in Nürnberg den Rahmen gibt. Wer aber bald die Tore machen soll? Es kommen ja noch ein paar Hochbegabte zurück.

"Das Missverhältnis der Welt scheint tröstlicherweise nur ein zahlenmäßiges zu sein", schrieb der Prager Versicherungsangestellte Franz Kafka dereinst nieder, und wer den Deutschen also gestern, am 100. Todestag dieses Kafkas, dabei zusah, wie sie mit wachsender Verzweiflung wenigstens einen vermaledeiten Ball ins Tor zu bringen gedachten, wollte fast nachsichtig nicken. 

Nein, das würde ganz sicher nichts mehr werden, es aber trotzdem immer weiter zu versuchen – war das nicht wirklich kafkaesk? Ein Anrennen gegen die Rätselhaftigkeit des Unterfangens, gegen die Ahnung auch, dass einem hier gerade Unrecht geschieht, allerdings ohne die Gründe dafür im Einzelnen zu kennen. Kafka war, nach allem, was man weiß, kein Fußballfan. An diesem Testspiel gegen die Ukraine hätte er Gefallen gefunden.

27:6 Schüsse, aber alle in den Ofen 

Beachtliche 27 Schüsse standen beim DFB-Team am Ende in der Statistik, davon leider nur fünf auf das und keiner ins Tor. Sie hatten geköpft, gestochert und gepasst, sie hatten es aus der Weite probiert und von ganz Nahem. Später in der Nacht, da sagte der auch etwas müde wirkende Bundestrainer auf der Pressekonferenz, die passenderweise in einer alten Turnhalle stattfand: Er wolle eine Mannschaft sehen, die gewinnen will, das sei ihm das Allerwichtigste. Und dass er die gesehen habe. Er hätte genauso gut sagen können: "Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden." 

Natürlich verstand ein jeder, was Julian Nagelsmann meinte. Manchmal ist im Fußball der Wille wichtiger als das Ergebnis und die Performance wichtiger als ein Sieg. In einem Testspiel zum Beispiel, elf Tage vor der EM. Nur bei der EM selbst, da wird es dann spätestens eine Mannschaft brauchen, die nicht nur gewinnen will. Sondern auch gewinnt. Andernfalls könnte es doch recht schwierig werden, weit zu kommen.

Kroos, Sané und Füllkrug werden helfen

Wie die Deutschen in der Restvorbereitung und vielleicht schon am Freitag gegen Griechenland eine solche Mannschaft werden? Eventuell mit anderen, mit nachrückenden Spielern. Mit jeder ungenutzten Möglichkeit und jeder unvollendeten Kombination drängte sich der Eindruck auf, dass die, die noch dazustoßen, es vielleicht besser machen würden, noch besser: Kroos und Rüdiger, frisch gebackene Champions-League-Sieger. Und auch Füllkrug und Schlotterbeck, immerhin finalgeweiht. Nicht zuletzt ein Leroy Sané, der gegen die Ukraine seine Rotsperre abgesessen hat. Die Anwesenheit der Abwesenden machte Mut, vielleicht rundete sie diesen Abend erst ab. Weil mithin Raum für die Sehnsucht blieb, was spielerisch möglich sein könnte, wenn der Kader ganz beisammen ist.



Denn der Test gegen die Ukraine sollte auch Inventur der Erwartungshaltung sein: Darf man dieser Mannschaft zutrauen, was sie sich selbst zutraut? Das Spiel jedenfalls war nicht so schlecht, wie es danach gemacht wurde. 

Und noch falscher war das Urteil der allzu gnadenlosen Kommentatoren, dass die DFB-Elf es leider verpasst habe, Turniereuphorie zu entfachen. Waren diese Scharfrichter denn eigentlich im Stadion gewesen? Hatten sie überhaupt gesehen, wie das Publikum bis zuletzt gefeiert und gejubelt hatte? Man merkt diesem Land an, dass es sich fest vorgenommen hat, ein zweites Sommermärchen zu feiern. Und wo es sein muss, da auch mit der Brechstange. Etwa wenn vor dem Anpfiff ein gewaltiges, die komplette Seitenlinie füllendes Banner ausgerollt wird, auf dem es heißt: MIT DEM HERZ IN DER HAND UND DER LEIDENSCHAFT IM BEIN... Beides war Gündogan, Wirtz und Havertz, Andrich, Tah und Kimmich mitnichten abzusprechen. 

Testspiel der Nostalgie: Fast wie in den Löw-Jahren

Die feinen Füße zogen ein geradezu pathologisches Kurzpassspiel auf, sie gaben den Ball kaum einmal her. Und setzten fast beleidigt nach, wenn er ihnen doch einmal abhanden kam. Besonders eindrücklich nach knapp zwanzig Minuten, als das gnadenloses Gegenpressing bis an die Grundlinie der Ukrainer in einer dreifachen Rückeroberung mündete. Die ersten Laolas waren da längst durch das weite Rund gerollt und der Bundeskanzler im einig Söderland böse ausgepfiffen worden, als sei er Robert Habeck. 



Ballbesitzfußball als Stimmungsdoping, hübsch anzuschauen. Nun ist das Max-Morlock-Stadion in Nürnberg ohnehin ein Tempel der Nostalgie, mit mächtiger Tartanbahn, den Flutlichtmasten und alten Fenstern, die von Erinnerungen verklebt sind. Angesichts der tikitakahaften Passfolgen war man folglich fast an Auftritte der noch nicht ganz späten Löwjahre erinnert, an die EM 2016 etwa, als ähnliche Darbietungen bis ins Halbfinale geführt hatten. 

Wäre die Fußballnation mit einem solchen Abschneiden in ein paar Wochen zufrieden?

Von den Nationalspielern, so heißt es, liest sowieso niemand Kafka.

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