"Ein zweiter Stürmer hätte uns in der zweiten Halbzeit gut getan", befand Joachim Löw unmittelbar nach dem Finaleinzug am Mittwochabend im Basler St. Jakob-Park. Es war ein bemerkenswerter Satz, denn der Bundestrainer kritisierte damit seine eigene Taktik. Die eigentlich zwingende Nachfrage des ZDF-Reporters, warum er denn trotzdem Torschütze Miroslav Klose allein an vorderster Front beließ, blieb am Abend noch aus.
Tags darauf bei der "Bilanz-Pressekonferenz" zum Türkei-Spiel zurück in Tenero wurde die "S-Frage" dann gestellt. Löws Antwort, sie hatte Hand und Fuß, teilweise: "Wir hatten im Mittelfeld einige Lücken, und in der Defensive standen wir nicht so kompakt. Deshalb brauchte es fünf Leute in dieser Zone. Die Effizienz war dadurch gegeben - das war entscheidend." So weit, so nachvollziehbar.
Aber Löw verriet auch - und das macht die Sache komplizierter -, dass er sich mit der nicht vollzogenen Einwechselung eine Option für die drohende Verlängerung offen lassen wollte. "Dann hätten wir gut einen weiteren frischen Stürmer gebrauchen können." Wobei diese Rechnung nach der 92. Minute nicht mehr aufgegangen wäre, was der Bundestrainer bei seiner Bilanzierung wohl übersah. Schließlich hatte der Coach in der Nachspielzeit ja schon Miro Klose (für den Defensiv-Mann Jansen) vom Feld geholt, damit war Podolski einzige Spitze im Sturmzentrum.
In diesem Moment beging Löw einen "Phantom-Fehler", denn er wollte, wie schon gegen Portugal, Borowski auf das Spielfeld schicken, um noch Zeit von der Uhr zu nehmen. Damit hätte er allerdings das Auswechselkontingent noch in der regulären Spielzeit ausgeschöpft. Ein frischer Angreifer in der Overtime, wäre so also nicht mehr möglich gewesen, der bereits ausgelaugte Podolski hätte - wie auch im Viertelfinale, wenn Portugal noch ausgeglichen hätte - noch 30 Minuten als einzige Spitze gehen müssen. Verbleibende taktische Optionen für den Bundestrainer in diesem Fall: keine. Deutschland steht im Finale, nur das zählt. Aber hätten die Türken in der 3. Minute der Nachspielzeit ihre große Freistoßchance genutzt, dann hätte der Trainer ohne Frage ein großes Problem gehabt.
Hoch gepokert hatte Löw auch in Sachen Torsten Frings. Seinen zweitwichtigsten Spieler trotz Rippenbruch, wenn auch nur in der zweiten Hälfte, spielen zu lassen, sorgte vielerorts für Diskussionsstoff. Andere fragten sich nicht ganz grundlos, warum Frings denn - wenn schon fürs Türkei-Aufgebot nominiert - nicht von Anfang an in der Startelf stand. Als Inkonsequenz wollte Löw diese Personalentscheidung nicht ausgelegt bekommen.
"Mit einem Rippenbruch ist nicht zu spaßen. Ob Torsten überhaupt 90 Minuten hätte gehen können, wussten wir nicht, deshalb hab ich ihn zunächst auch draußen gelassen." Wofür ihn der Ausgebotene vor dem Spiel selbst sogar gelobt habe. "Torsten kam - nachdem ich ihm die harte Entscheidung mitgeteilt hatte - zu mir ins Zimmer und äußerte Verständnis. Er hätte an meiner Stelle genauso gehandelt." Diese Geste zeige im Übrigen, dass Frings charakterlich ein Topmann sei, so Löw weiter.
Viel mehr Worte wollte der Bundestrainer dann auch nicht über das mühsame Match gegen die Türkei verlieren. Man konnte sich schon denken, warum. "Wichtig ist, dass man auch solche Spiele durchsteht und gewinnt. Und dass man die Moral hat, zum Schluss noch einmal zurückzuschlagen", so Löws letzte Worte, die ein BBC-Reporter für eine allerletzte Frage zum Ende der Pressekonferenz dankbar aufnahm.
Ob es denn ausschließlich immer Glück sei, dass Deutschland bei großen Turnieren regelmäßig in Halbfinals oder Finals stehen würde. Oder ob das Ganze vielleicht doch auch etwas mit Psychologie zu tun habe. Der Engländer wollte es jetzt ganz genau wissen. "Nur Glück", erwiderte Löw mit einem Lächeln - um dem Reporter dann aber nach kurzer Schweigesekunde doch noch eine brauchbare Antwort in sein Notizbuch zu diktieren. "Die Siegermentalität zeichnet die deutschen Teams einfach aus." Möglicherweise keine echte neue Erkenntnis für den BBC-Reporter.