Frauen-EM 2022 Elf Freundinnen müsst ihr sein: Wie sich die DFB-Frauen in unsere Herzen spielen

Die deutschen Frauen feiern einen Treffer bei der EM in England
Mit Offensivfußball und viel Engagement begeistert die deutsche Frauen-Nationalmannschaft bei der EM 2022 in England. 
© Franck Fife / AFP
Ehrlich, authentisch, sympathisch – die deutsche Frauen-Nationalmannschaft erobert bei der Fußball-EM 2022 die Herzen der Fans. Das ist nicht nur dem Erfolg geschuldet, sondern auch Eigenschaften, die den Männern scheinbar abhanden gekommen sind.

Kennen Sie noch das Jugendbuch "Elf Freunde müsst ihr sein" vom Sportreporter Sammy Drechsel? Das Buch handelt von Heini Kamke und seiner Klasse einer Berliner Volksschule, die in den 30er-Jahren um die städtische Schulmeisterschaft kämpft. Vor allem geht es aber um Gemeinschaftssinn und den Sportsgeist innerhalb der Klasse, aber auch mit anderen Gegnern. Angelehnt ist der Titel an den Spruch im Sockel der Victoria-Statue, dem Vorgänger der Meisterschale: "Elf Freunde müsst ich sein, wenn ihr Siege wollt erringen". Die Lehre daraus ist einfach: Nur wer als Mannschaft auftritt, kann wirklich erfolgreich sein. Veröffentlicht wurde das Jugendbuch 1955, dem Jahr, in dem der DFB den Frauenfußball verbot.

Und damit wären wir auch beim eigentlichen Thema: der Frauen-Nationalmannschaft des Deutschen Fußball-Bundes und der erfrischenden Erkenntnis, wie schön und angenehm Fußball doch noch sein kann. Egal ob in Vorrunde, Viertel- oder Halbfinale, das deutsche Team überzeugt bei der Fußball-EM der Frauen auf so vielen Ebenen: Sie kämpfen, sie laufen, sie unterstützen sich und sie wirken ehrlich und sympathisch.

Wer die Entwicklung des Männerfußballs gerade in den vergangenen beiden Jahrzehnten ansieht, wird vor allem kaum noch Sympathie mit Spielern und Vereinen empfinden. Da stehen geschulte Spieler vor den Mikros und geben 0815-Antworten, führen das Interview einfach selbst oder brechen das Gespräch beim ersten Hauch von Kritik ab. Da gibt es Vereine, die sich aus purer Geldgeilheit mittlerweile so weit von ihren Fans entfernt haben, dass sie lieber quer durch Europa für Spiele fliegen würden, statt das Derby nur wenige Kilometer entfernt zu spielen. Da gibt es Verbände, die sich mit Slogans wie "Die Mannschaft" so steril zeigen, dass sie trotz eines WM-Titels vor wenigen Jahren kaum noch Sympathien im eigenen Land haben.

Fußball-EM 2022: Das DFB-Team ist erfrischend authentisch

Wenn sich also eine Alexandra Popp nach dem gewonnenen Halbfinale vors Mikro stellt und Sätze wie "kein Schwein mit uns gerechnet hat und jetzt stehen wir im Finale vor 90.000 Zuschauern – was Schöneres gibt es nicht" und "Jetzt macht es erst recht keinen Sinn mehr, zu verlieren" ins Mikro sagt, kann man als Fußball-Fan einfach nur Sympathie für diese Mannschaft empfinden. Und dazu kommt der Teamgedanke: Egal ob Popp, als Kapitänen und Torjägerin oder Lena Oberdorf als Herz der Mannschaft im Mittelfeld – Lob an sich selbst will keiner annehmen und stellt immer die Mannschaft in den Vordergrund. Dass nach Abpfiff die Spielerinnen in ihrer Freude auf recht unterhaltsame Weise an die Corona-erkrankte Klara Bühl dachten, ist ein weiteres Zeichen dieser Einheit.

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Es ist aber auch die Spielweise, die erfrischend wirkt. Gegen Frankreich wirkte das Team in den ersten Minuten zögerlich, Frankreich zeigte immer wieder die technische Überlegenheit, wollte in Eins-gegen-Eins-Situationen Torchancen kreieren. Doch so weit kam es gar nicht, denn die Französinnen trafen nicht auf eine Gegenspielerin, sondern immer auf mehrere. Selbst nach Kontern eilte das komplette deutsche Team bis an den eigenen Strafraum zurück und unterstützte sich in brenzligen Situationen. Das unglückliche Eigentor kurz vor der Pause, der erste Gegentreffer im Verlauf der EM, hätte der Genickbruch für das bis dato reibungslos funktionierende Kollektiv sein können. Doch angeführt von Alexandra Popp und Lena Oberdorf fand das Team zurück in die Spur: Mit viel Wille, Einsatz und teils begeisternden Spielzügen.

Es ist aber auch die Rolle des Underdogs, die die Herzen höherschlagen lässt. Ja, acht der elf EM-Titel gingen nach Deutschland, doch in den vergangenen Jahren holten andere Länder gewaltig auf, zogen vielleicht in der Entwicklung sogar am DFB-Team vorbei. Der letzte Titel liegt mit dem Olympiasieg sechs Jahre zurück, der letzte EM-Titel (2013) und WM-Triumph (2007) noch weiter. Vielleicht hatte man sich zu sehr auf den Lorbeeren ausgeruht, viel mehr haben aber andere Länder das Potenzial im Frauen-Fußball gesehen. In Spanien besuchen bis zu 91.000 Zuschauer die Duelle zwischen Real Madrid und dem FC Barcelona, die britische Women’s Super League (WSL) kündigte erst im vergangenen Jahr eine Initiative an, mit der die durchschnittlichen Zuschauerzahlen auf 6000 Zuschauer gesteigert werden soll. Das mag zunächst wenig klingen, doch den höchsten Zuschauerschnitt in Deutschland hatte in der Vorsaison Eintracht Frankfurt mit 1580 Besuchern pro Partie, der niedrigste lag bei mickrigen 274. Zu dem Erfolg in Großbritannien soll auch ein großer Fernsehdeal beitragen. 24 Millionen Pfund (rund 28,6 Millionen Euro) investieren BBC und Sky bis 2024 in die Liga, viele der Spiele werden live im TV gezeigt.

Das Potenzial ist da, nun muss es auch der DFB nutzen

Das EM-Halbfinale der deutschen Frauen verfolgen 12,187 Millionen Menschen in Deutschland vor dem Fernseher – mehr als je bei einem EM-Spiel zuvor. Dazu steigen beim DFB die Zahl der Mitgliederinnen (mittlerweile über 1,1 Millionen von insgesamt 7,1 Millionen) und die Anzahl der Spielerinnen. 186.000 aktive Spielerinnen registrierte der DFB in der abgelaufenen Saison, so viele wie seit der Saison 2017/2018 nicht mehr. Das Potenzial und das Interesse in Deutschland für einen professionelleren Spielbetrieb – bei dem die Frauen auch von einem Gehalt leben können – scheint gegeben, es muss nur auch umgesetzt werden. Da wird auch in Zukunft der DFB eine wichtige Rolle einnehmen müssen. Länderspiele unter der Woche um 15 oder 17 Uhr anzusetzen kann und darf nicht die Lösung sein, den Frauen-Fußball in Deutschland angemessen präsentieren zu wollen. Ebenso, die Frauen mit einem geringen Teil dessen als Prämie abzuspeisen, die die millionenschweren Männer für einen EM-Titel bekommen hätten. Das Stichwort "Equal Pay" muss gerade bei den Nationalmannschaften gelten – auch um den Sport attraktiv zu machen und ein Signal zu setzen für den Ligabetrieb. Die gleichwertige Bezahlung von Männern und Frauen sollte keine Frage des Preisgeldes für die Nationalmannschaften sein, sondern eine Sache des Anstands.

Die Erfolge des Frauenfußballs in Deutschland kann Sammy Drechsel nicht mehr verfolgen. Er starb 1986, drei Jahre vor dem ersten EM-Titel (und dem legendären Tee-Service des DFB als Siegprämie) der deutschen Frauen. Vielleicht hätte er sich heutzutage inspirieren lassen für ein neues Buch, von einer Einheit deutscher Frauen, die ihr Land begeisterte. "Elf Freundinnen müsst ihr sein" quasi – verdient hätten sie diesen Titel allemal, selbst wenn es nicht mit dem neunten EM-Triumph klappen sollte.

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