Sollte die Karriere des Fußballlehrers Hans-Dieter Flick einmal enden, könnte er nahtlos in die Politik wechseln. Flicks Gabe ist es nämlich, Schärfe aus Debatten zu nehmen, still im Hintergrund zu wirken und dort für die eigenen Interessen zu kämpfen. So vermied es der Bundestrainer am Mittwoch, mit einigen seiner Spieler hart ins Gericht zu gehen – obwohl sie ihn derzeit vor große Probleme stellen.
Hansi Flick: "Man darf die Leute nicht vorverurteilen"
Am Montagabend war der Innenverteidiger Niklas Süle positiv auf das Coronavirus getestet worden. Einen Tag später reiste nicht nur Süle aus dem Ritz-Carlton-Hotel in Wolfsburg ab, sondern auch Serge Gnabry, Joshua Kimmich, Jamal Musiala (alle FC Bayern) und Karim Adeyemi (RB Salzburg). Sie wurden in Quarantäne geschickt, weil sie mit Süle Kontakt hatten – und womöglich auch, weil sie ungeimpft sind. Dieser Verdacht steht im Raum, weil vier weitere Spieler, die im selben Flugzeug von München nach Niedersachsen saßen, nicht mit einer Quarantäne belegt wurden. Von Joshua Kimmich ist bekannt, dass er keinen Impfschutz hat.
Flick übte am Mittwoch nur sehr vorsichtig Kritik. "Impfen ist meiner Meinung nach der einzige Weg, der aus der Pandemie führt", sagte Flick. "Fünf Spieler fahren nach Hause – ich würde mir wünschen, dass es so etwas nicht mehr gibt."
Gleichwohl warb Flick für Milde gegenüber Kimmich und Kollegen. "Man darf die Leute nicht vorverurteilen. Wir haben in Deutschland auch keine Impfpflicht." Mit den betroffenen Spielern hatte Flick nur kurz sprechen können – die Kontaktbeschränkung ließ nichts anderes zu. "Aber wir werden diese Gespräche fortsetzen", kündigte Flick an – sicherlich auch, um Vorkehrungen zu treffen, dass das Coronavirus nicht noch einmal so sehr den Kader durcheinanderwirbelt wie in diesen Tagen. Im nächsten Jahr reist das DFB-Team zur WM nach Katar; Flick hat die Rückkehr in die Weltspitze als Ziel ausgegeben.
Und die Umbauarbeiten beginnen
Vor dem Länderspiel gegen Liechtenstein am Donnerstag muss Flick die Mannschaft nun stark umbauen. Denn nicht nur die vier Bayern-Profis und Adeyemi fallen aus, sondern verletzungsbedingt auch Florian Wirtz, Julian Draxler und Nico Schlotterbeck. Dafür wird wohl Lukas Nmecha zu seinem ersten Länderspieleinsatz kommen. "Ich will mal die Gerüchteküche anheizen", sagte Flick, "vielleicht spielt er sogar von Beginn an". Und wer Flick dabei ins Gesicht schaute und lächeln sah, wusste: Nmecha wird spielen.
Lukas Nmecha ist ein klassischer, kantiger Mittelstürmer. Ein Spielertypus, der es unter Flicks Vorgänger Joachim Löw schwer hatte. Löw mochte eher kleine, feingliedrige Spieler, die den Ball ins Tor kombinierten. Er bewunderte den spanischen Fußball, das hohe technische Niveau – und den Verzicht auf Wucht und Zweikampfstärke. Das führte zu einem Artensterben auf der Mittelstürmerposition in Deutschland; erst Flick, der im August von Löw übernahm, hat diese Planstelle wieder im Auge.
Nmecha, 22, ausgebildet bei Manchester City, spielt bislang eine starke Saison. Er profitiert beim VfL Wolfsburg vom neuen Trainer Florian Kohfeldt und macht dort Wout Weghorst Konkurrenz, der ebenfalls mit dem Kreuz eines westfälischen Bauernschranks ausgestattet ist.
Thomas Müller, mit 108 Länderspielen einer der Alterspräsidenten der Nationalmannschaft, hat einen positiven Eindruck gewonnen von Nmecha. "Gestern im Training hat das schon sehr gut ausgesehen", sagte Müller. "Dem Idealbild eines Brechers kommt Lukas schon sehr nahe."
Gegen Liechtenstein wird Flick eine Elf auf den Platz schicken, "die so noch nie zusammengespielt hat", wie er sagte. Flick ist zum Experimentieren gezwungen, doch zu seinem Glück jedoch die WM-Qualifikation schon geschafft, die Partien gegen Liechtenstein und Armenien (Sonntag, 18 Uhr, RTL) bedeuten Sparring auf höherem Niveau.
Gleichwohl will Flick den 26.000 Zuschauern in Wolfsburg "ein tolles Spiel" bieten, zumal im Publikum auch Joachim Löw weilt. Löw, der 2014 mit der Nationalmannschaft Weltmeister wurde und zuletzt bei der EM krachend scheiterte, wird vor dem Anpfiff vom DFB verabschiedet.