Es war eine Szene, die man als Torwart, an dem öffentlich gezweifelt wird, überhaupt nicht gebrauchen kann. Im Rückspiel des Champions-League-Achtelfinales gegen Liverpool leistete sich Neuer einen hanebüchenen Fehler, als er in der 26. Minute zu früh und in völliger Fehleinschätzung der Lage aus dem Tor lief. Er wollte Sadio Mané abfangen, doch der drehte sich um die eigene Achse und hob den Ball ins Tor - es stand 0:1 im wichtigsten Spiel des Jahres für den FC Bayern. Neuer war nicht ganz unschuldig an dem Gegentreffer. Der Ausgang der Partie ist bekannt. Die Bayern flogen hochkant aus dem Wettbewerb.
Fehler passieren jedem Torwart, aber in diesem Fall versinnbildlichte der Patzer des einst besten Torwarts der Welt das, was längst schon diskutiert wird: Neuer ist nicht mehr unanfechtbar, der Bayern-Keeper hat viel von seinem früheren Nimbus eingebüßt. Begonnen hat diese Entwicklung im Sommer 2018, als Löw ihn trotz seiner langen Verletzung als Nummer eins mit zur WM in Russland nahm statt seines aufstrebenden Konkurrenten Mar-André ter Stegen. Die Pleite bei der WM und der Abstieg aus der Nation League haben nicht dazu beigetragen, die Zweifel an Neuer zu beseitigen.
Negativ-Schlagzeilen der Nationalelf hängen ihm an
Selbstverständlich ist Neuer nicht verantwortlich für die schwachen Leistungen der Nationalelf, aber sie hängen ihm an. Zweifel sähen eher seine Auftritte im Tor der Bayern, die in den vergangenen Monaten nicht immer souverän wirkten. Auf einmal ist sogar davon die Rede, dass der 32-Jährige schon lange nicht mehr die unhaltbaren Bälle festhält. Verstärkt wurde der Eindruck natürlich durch die wacklige Abwehr der Bayern in der Hinrunde. Neuer musste ungewohnt oft hinter sich greifen.
Zwar betont Bundestrainer Joachim Löw, dass Neuer seine Nummer eins ist, aber es hört sich immer ein bisschen so an, als sei das nur als eingeschränkte Zusage zu verstehen. Auf der Presskonferenz vor den beiden Länderspielen gegen Serbien (1:1) und am Sonntagabend gegen die Niederlande (ab 20:45 Uhr im stern-Liveticker) sagte Löw: "Er ist aktuell unsere Nummer eins, er ist unser Kapitän. Marc ter Stegen wird in diesem Jahr seine Möglichkeiten bekommen. Auch Manuel Neuer wird seine Leistung bei uns zeigen müssen. Aber Manuel Neuer ist aktuell unsere Nummer eins." So spricht man, wenn man sich alle Möglichkeiten offen halten will.
Neuer wird wissen, was für ihn auf dem Spiel steht. Löw hat mit der Ausbootung von Thomas Müller, Jerome Boateng und Mats Hummels bewiesen, dass er bereit ist, für den Neustart der Nationalelf radikale Maßnahmen zu ergreifen. Löw will sich als Reformer präsentieren, und er muss es auch, sonst ist er am Ende selbst seinen Job los. Dass er ter Stegen in der zweiten Halbzeit gegen Serbien spielen ließ, ist ein Statement.
Sportlich spricht viel für ter Stegen
Tatsache ist, dass sportlich viel für den Keeper des FC Barcelona spricht. Im dritten Jahr ist ter Stegen Stammtorwart bei den Katalanen (in den ersten beiden Jahren teilte er sich das Tor mit Claudio Bravo) und er hat sich seitdem kontinuierlich verbessert. Im Sommer hätte er normalerweise schon die WM spielen müssen, wenn Löw nicht so starsinnig und gegen alle Vernunft an seinen Titel-Helden von 2014 festgehalten hätte. Ter Stegen hält die sprichwörtlich unhaltbaren Bälle. Das hat er in dieser Saison mehrmals beweisen. Sein ganzer Auftritt ist durch und durch überzeugend.
Die Frage lautet also eher: Wie lange ist Neuer noch die Nummer eins? Der "Spiegel" spricht von "schleichender Machtübernahme“ durch ter Stegen, der sich mit aller Macht aufdrängt. Viel spricht dafür, dass es so ist. Doch einen Torwart wie Neuer serviert man nicht so einfach ab. Das weiß Löw. Und es ist auch nicht angebracht. Neuer ist nach wie vor ein guter Keeper, der wieder das alte Niveau erlangen kann. Er weiß selbst, dass er zur alten Garde gehört, und von der sind bekanntermaßen nur Toni Kroos und er übrig.
