stern-Interview mit Oliver Kahn "Ich habe kapiert"

Fehler bringen den einst nach Perfektion strebenden Nationaltorhüter nicht mehr aus der Fassung. Im stern spricht Oliver Kahn über seinen entspannteren Umgang mit Fehlern, seinen ungebrochenen Ehrgeiz und seinen Rivalen Jens Lehmann.

Herr Kahn, wir sind überrascht: Sie sehen zehn Jahre jünger aus als Ende Februar, nach Ihrem Fehler gegen Real Madrid.

Es gab Fotos, da dachte ich nur: ziemliche Falten um die Augen und um den Mund.

Erschrecken Sie, wenn Sie solche Bilder sehen?

Das ist wohl die Folge des ständigen Adrenalins im Körper, was je nach Drucksituation variiert.

Diese Reaktion kennt man sonst nur von Ihrem Trainer Ottmar Hitzfeld.

Da sind wir uns tatsächlich ähnlich. Weil wir beide Menschen sind, die diesen Druck so in sich aufsaugen. Aber wenn dann das Adrenalin sich wieder abbaut, läuft der Prozess Gott sei Dank wieder rückwärts, ein bisschen wenigstens. Drei, vier Tage nach dem Rückspiel in Madrid habe ich morgens in den Spiegel geschaut. Die Haut war schon wieder glatt - auch ohne Creme...

Das Ausscheiden, Ihren Patzer vom Hinspiel hatten Sie da schon verdaut?

Da hab ich schon Schlimmeres erlebt. Jetzt hätten wir alles noch umdrehen können. Das Spiel war ein Achtelfinal-Hinspiel, ein Spiel, wie wir es in den letzten Jahren schon oft gegen Madrid hatten.

Sie machen sich da was vor, Herr Kahn. Am Tag nach dem Fehlgriff sahen Sie aus, als wollten Sie alles hinschmeißen.

Im Gegenteil. Ich bin sehr gut in Form, spiele eigentlich eine gute Rückrunde...

Moment mal: Sie haben zweimal ganz schön daneben gegriffen.

...auch wenn das leider überlagert wird von diesem Fehler gegen Real. Es war ganz einfach Pech.

Wie bitte - Oliver Kahn spricht von Pech? Das nehmen wir Ihnen nicht ab.

Selbstverständlich habe ich mich gefragt, wie das passieren konnte. Aber es gibt keine Antwort, denn so ist der Fußball doch. Oder wollen Sie hören, dass ich im Länderspiel gegen Kroatien vor dem Gegentreffer verletzt war? Oder dass beim Treffer von Madrid Ronaldo in die Schussbahn läuft und mich dadurch für einen kurzen Moment irritiert? Das würden Sie mir doch alles als billige Ausreden auslegen. Natürlich habe ich jetzt wieder darüber nachgedacht: Soll ich so reagieren wie früher und zur Strafe noch mehr trainieren? Das kann ich mir nicht vorstellen, dass es irgendwas bringt, wenn ich jetzt täglich 100 Schüsse mehr auf die Kiste bekomme. Irgendwann stellt man fest, es macht keinen Sinn, sich ständig zu hinterfragen, sich selber zu quälen. Ich habe kapiert, dass ich mich in solchen Momenten vor mir selbst schützen muss. So kann ich es abhaken und dann geht's weiter.

In der letzten Minute des Rückspiels sind Sie nach vorne gestürmt, als es Freistoß für Bayern gab. Sie rannten zum jungen Schweinsteiger, der beim Ball stand, sagten ihm etwas und lauerten dann im Strafraum. Auf der Tribüne dachten wir: Jetzt macht er sein Tor...

Ich hab's in dem Moment auch gedacht. Leider funktioniert das nur in Hollywood. Ich habe zum Bastian gesagt, hör zu, jetzt haust du den Ball genau in die Mitte auf den Elfmeterpunkt, und ich steig hoch und köpf das Ding rein. Aber...

...der Ball verhungerte.

Ja, der Ball verhungerte, vorne irgendwo, am ersten Pfosten. Ich träume immer davon, dass mir so ein Tor mal gelingt. Aber ich gebe nicht auf, irgendwann schieße ich mein Tor.

In Rostock waren Sie mal nahe dran.

Da hätte ich die Hände weglassen sollen. War aber auch schön.

Sie haben in den letzten anderthalb Jahren turbulente Zeiten durchgemacht. Aber statt härter zu werden, reagieren Sie mit Ironie und Gelassenheit?

Das liegt vielleicht an meiner Robustheit. Die entwickelt man natürlich nur über die Erfahrung. Mit 20, 25 kann einen das ganz schön belasten, wenn man das alles erlebt.

All die Jahre war nur Ihr Image umstritten: Tumber Muskelmann, heldenhafter Titan, nach der WM waren Sie sogar mal richtig beliebt - und dann wurden Sie durch Ihre Affäre mit Verena zu einer Zielscheibe des Boulevards. Doch jetzt, zum ersten Mal, werden Ihre Qualitäten als Torwart angezweifelt.

Das ist doch der Fluch des Erfolgs. Ich wusste immer genau, dass es schwierig ist, an die Messlatte, die ich gelegt habe, immer wieder heranzukommen. Und mir war klar, sobald ich mal eine Phase habe, wo ich nur solide spiele, dass ich dann eben mit Kritik leben muss.

Sie nehmen diese Kritik nur von wenigen Leuten ernst - vor allem von Ihren Vorgängern in der Nationalelf, Sepp Maier und Toni Schumacher. Schumacher sagte nach dem Real-Spiel: Sie wirkten ausgebrannt, bräuchten wegen ihrer privaten Probleme dringend eine Auszeit.

Warum soll ich denn eine Auszeit nehmen? Sehe ich etwa müde aus?

Heute nicht.

Schauen Sie, ich hab in den Wochen nach dem Spiel gegen Madrid gut gehalten. Ich sehe es als Herausforderung an, wenn alle glauben, jetzt geht gar nichts mehr, dann zurückzukommen. Nach der WM habe ich lange Zeit gegrübelt, was nach dem Gipfel kommt. Kann man noch höher hinaus, was meinen Sie?

Hinter jedem Gipfel geht's bergab.

Irgendwann habe ich mir gesagt: Du kannst oben auch versuchen, auf deine eigenen Schultern zu steigen. Er lacht.

Das ist Wahnsinn. Hatten Sie sich vom Perfektionismus nicht verabschiedet?

Ja. Ich meine das auch anders. In mir breitet sich seit einiger Zeit eine sehr angenehme innere Ruhe aus. Ich war im Januar vier Tage in Japan wegen eines Werbetermins. Ich war fast rund um die Uhr verplant, aber ich war total entspannt. Die Begeisterung der Leute war so respektvoll und unheimlich angenehm.

Weiß Ihre Tochter, was für ein Star ihr Vater ist?

Noch nicht so richtig, aber langsam beginnt sie das alles zu realisieren.

Haben Sie das Gefühl, dass es Ihnen und Ihrer Frau gelungen ist, die Kinder nicht unter der neuen Situation leiden zu lassen?

Ja, zum größten Teil. Es bedeutet, ständige Gespräche, ständiges Beobachten des Kindes, das Kind nicht allein lassen. Immer wieder sich auseinander setzen, viele Erklärungen, viel Wärme, viel Liebe. Es ist eine große Aufgabe. Warum soll das weniger eine große Aufgabe sein, wie Weltmeister zu werden?

Wenn man Sie so hört: War der Tunnelblick, die völlige Konzentration auf den Fußball, die auf dem Platz Ihre Stärke ist, in Ihrem Leben nicht manchmal ein Hindernis - wie Scheuklappen?

Du bist gefangen in einer Welt des Erfolges. Power ohne Ende, Blick stur nach vorne gerichtet, auf deine Ziele fixiert. Alles dafür tun, rechts und links siehst du nichts mehr. Das ist oft der typische Weg eines erfolgreichen Menschen, der aber irgendwann dann einfach auf die Nase fallen muss, weil das Leben ja so nicht funktionieren kann.

Was ist jetzt mit Ihrem Tunnelblick?

Den bekomme ich auf jeden Fall wieder. Aber ich kann ihn jetzt an- und ausschalten.

Sind Sie in Japan immer noch der WM-Held?

Die Japaner sehen in mir diesen Samurai-Geist. Was mir diese Beliebtheit gebracht hat, war ja interessanterweise nicht nur der Erfolg, den wir hatten, sondern auch mein Verhalten nach dem verlorenen Finale. Dieser Moment am Pfosten hat die Japaner fasziniert. Dieser Moment, in dem ich in der Niederlage eine gewisse Haltung bewahren musste. Das haben die Menschen dort genau registriert.

Dass Sie danach zum Objekt des Boulevards wurden, hat das Bild nicht verändert?

Ich wurde in Japan danach nicht einmal gefragt. In vier Tagen nicht ein einziges Mal. Die Leute interessieren sich nur für den Sportler, wollen alles wissen, was den Torwartjob betrifft.

Hier ist das anders. Ihr Privatleben sorgt immer wieder für Schlagzeilen. Sie leben mittlerweile von Ihrer Ehefrau Simone und Ihren Kindern getrennt. Ihre Tochter ist fünf, Ihr Sohn gerade ein Jahr alt. Wie verkraften die beiden das?

Wir wollen von den Kindern alles fernhalten, so gut es geht, sie sollen sich normal entwickeln. Mit Katharina kann man schon tolle Gespräche führen. Sie kommt jetzt in ein Alter, wo es die ersten Widerworte gibt.

Diese Woche waren Sie nicht bei der Nationalelf, Sie durften sich ausruhen. Nun wird die Aussprache zwischen Ihrem Rivalen Jens Lehmann und Ihnen erst Ende April stattfinden. Er hatte Sie mit dem Spruch brüskiert: "Was soll ich mit ihm reden, ich habe keine 24-jährige Freundin."

Ich bin nicht so sensibel, dass mir jemand erklären muss, so war's nicht gemeint. Bei mir braucht sich auch keiner für irgendwas entschuldigen. Es geht darum, dass diese Sache die Mannschaft nicht belastet. Und gerade die letzte WM hat gezeigt, das deutsche Team braucht ein Klima des Erfolges, ein harmonisches Klima. Deshalb ist es meine Verantwortung als Kapitän, diese Dinge aus der Welt zu schaffen.

Auch beim FC Bayern läuft es nicht: In der Champions League und dem DFB-Pokal sind Sie nicht mehr dabei, in der Meisterschaft liegen Sie neun Punkte hinter Bremen ?

Wir hatten in den letzten Jahren großen Erfolg, da ist ein kleines Tal kein Weltuntergang. Und wir stehen in der Bundesliga auf dem zweiten Platz. Ich kann mir größere Katastrophen vorstellen.

Aber Trainer Ottmar Hitzfeld steht auch unter Beschuss der Klubführung, und die Kritik der Experten konzentriert sich immer wieder auf Sie und Michael Ballack. Unser Eindruck ist: Die anderen Stars ducken sich hinter Ihnen beiden weg.

Das ist der äußere Eindruck. Optimal ist es, wenn alle Spieler Verantwortung fürs Team und ihre Position übernehmen. Das habe ich schon vor der Rückrunde gesagt.

Aber geändert hat sich nichts. Die Versager sind immer dieselben.

Wenn Sie damit mich meinen, so habe ich damit kein Problem.

Hat der FC Bayern 2004 zu viele nette Jungs - und zu wenig Siegesverrückte?

Jeder Spieler beim FC Bayern ist, wenn man europaweit schaut, absolut konkurrenzfähig. Für die Transferpolitik bin ich nicht zuständig.

Muss Ballack Lust entwickeln, ein Sauhund zu sein?

Das ist man - oder man ist es nicht.

Dann wird Ballack niemals ein Sauhund.

Das muss er auch gar nicht werden. Der soll sich ja gar nicht verändern. Der soll authentisch bleiben, das ist ganz wichtig. Man kann Spieler nicht verändern. Das geht nicht. Das habe ich noch nie erlebt, dass das funktioniert. Man muss versuchen, Michaels Stärken in ein Gefüge einzubetten.

Sie sind seit 1994 in München. Bis 2006 wollen Sie noch durchhalten. Unsere Vorstellung ist: Nach der WM in Deutschland spielen Sie nur noch Golf.

Nein.

Nein?

Warum denn?

Wir sind davon überzeugt, dass Sie aufhören. Das halten Sie nicht länger durch. Ihr Stil ist zu kräftezehrend.

Ich fühle mich körperlich viel zu fit. Was die Zukunft betrifft, möchte ich mich einfach nicht mehr festlegen. Ich bin selbst gespannt, wie weit ich noch gehen kann. Dino Zoff ist mit 40 Jahren Weltmeister geworden. Mit 40 Jahren - heute bin ich 34, das wäre bei mir also die WM 2010.

Fühlen Sie sich auch wie 34?

Vor kurzem bin ich in München in einem Café gesessen, da hat jemand zu mir gesagt: Du siehst eigentlich aus wie 28. Das kommt genau hin.

Interview: Rüdiger Barth/ Giuseppe di Grazia

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