Es ist nur ein kleiner, grasbewachsener Hügel, doch vom Münchner Olympiaberg aus kann man über die Vergangenheit und die Zukunft des Fußballs schauen. Die Vergangenheit liegt ganz nah, sie schmiegt sich an den See am Fuße des Hügels und wird getragen von einem weißen Stahlgerüst: das Olympiastadion. Hier haben Fußballzuschauer schon viele große Spiele erlebt, das WM-Finale 1974 zum Beispiel, als Gerd Müller Deutschland durch seinen 2:1-Siegtreffer gegen die Niederlande zum Weltmeister schoss und sich selbst zum "Bomber der Nation". Oder die vielen Schlachten des FC Bayern im Europacup. Der heiße Kampf auf dem Rasen konnte aber nie den schneidenden Wind erwärmen, der über die Tribünen pfiff. Und das offene Stadion verhinderte, dass die Stimmung zu einer tosenden Welle anschwoll. Selbst bei Vollbesetzung verebbten die Emotionen oft in der Weite des Ovals - auch wegen der Tartanbahn, die wie eine rote Barriere Spieler und Fans voneinander trennte.
Seit einem Jahr
strömen Fußballfans nicht mehr ins Münchner Olympiastadion. Der Fußball rollt jetzt im Nordosten der Stadt, in der Allianz-Arena, wo auch das Eröffnungsspiel der WM 2006 stattfindet. Dieser Prachtbau gilt als das Vorzeigemodell der neuen Fußballstadien in Deutschland. Es gibt keine Laufbahn mehr, selbst im Oberrang sitzt der Zuschauer noch ganz nah am Spielgeschehen, die Tribünen ranken sich in einem schwindelerregenden Winkel von bis zu 34 Grad rauf unters Dach. Und überall im Stadion Technik vom Feinsten. Die Außenwände bestehen aus 2760 luftgefüllten Kissen, die sich nachts mit Hilfe von 25 000 Leuchtstoffröhren erhellen. Das Saatgut für den Rasen wurde aus dem US-Bundesstaat Oregon importiert, die Halme durch eine Spezialmaschine mit integrierten Fußballstollen bearbeitet, damit sie sich an die Belastung gewöhnen können.
Auch die Gastronomie
hat sich gewandelt. Die Würstchenbuden sind standesgemäßen Belustigungszonen gewichen: Es gibt in der Arena verschiedene Restaurants, darunter auch eines, das im Stil der 70er Jahre eingerichtet ist, zwei Fantreffs mit Bierhallenatmosphäre, Bayernstüberl und Cocktailbar - all das erfüllt passgenau die Bedürfnisse der Fans. Bezahlt wird im Stadion mit einer Geldkarte, die der Besucher immer wieder aufladen kann. "Die Fußballstadien sind zu einer Art zeitgenössischer Opernhäuser geworden", sagt der Schweizer Architekt Jacques Herzog, der zusammen mit seinem Kollegen Pierre de Meuron die Allianz-Arena entworfen hat. 340 Millionen Euro hat der Bau gekostet. Das neueste der zwölf WM-Stadien sprengt die meisten Superlative. Auch in Frankfurt, Leipzig, Gelsenkirchen, Hamburg und Dortmund mussten die Traditionsstätten funktionalen Arenen weichen. Die Modernisierung hat ihren Preis: Um die Projekte zu finanzieren, wurden die Namensrechte an den Stadien an Sponsoren verkauft. Romantische Spielorte wie das Waldstadion oder das Müngersdorfer Stadion sind passé, Commerzbank und Co. laden jetzt an Bundesligaspieltagen zum Fußballschauen ein. Nur für die Zeit der WM hat sich der Weltverband Fifa als Hausherr eingemietet. Die Schriftzüge der Klub-Sponsoren wurden von den Dächern entfernt, die Bandenwerbung ausgewechselt, und die Stadien bekamen Fifa-konforme Namen. In den neuen Tempeln kanalisiert die Architektur schon vor dem Spiel die Emotionen: Wer in München aus der U-Bahn steigt, gelangt über eine 600 Meter lange Rampe zu den Eingangspforten. Die Idee dabei ist: Die Menschen sollen über so etwas wie einen Pilgerweg zum Spiel gelangen. "Der Gang in die Arenen gleicht immer mehr einem Prozessionszug", sagt Gunter Gebauer, Professor für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin. "Reine Fußballstadien sind Wallfahrtsorte des 21. Jahrhunderts." Er vergleicht den Besuch eines Spiels mit dem sonntäglichen Gottesdienst. Wie bei den religiösen Ritualen in der Kirche gebe es auch im Stadion festgelegte Orte des Kultes, rituelle Bewegungen und Gesänge. Das beginnt bei der Suche des Sitzplatzes und endet mit den Schlachtgesängen der Fans. Und die Fußballstars würden von ihren Anhängern ähnlich wie Heilige angebetet.
Das Innere der neuen
Arenen ist erst recht so geschaffen, dass die Gefühle ins Brodeln kommen. Nie zuvor saßen die Zuschauer bei einer WM näher und steiler am Rasen. Und selbst in Nürnberg oder Stuttgart, wo noch immer eine Tartanbahn die Zuschauer vom Spielfeld trennt, sorgt nun ein Dach über den Sitzplätzen für eine bessere Atmosphäre. Dadurch leidet zwar wie in fast allen neuen Arenen der Rasen, weil er zu wenig Licht bekommt, aber die Stimmung strömt durchs Stadion und peitscht Spieler und Zuschauer gleichermaßen an.
Die neue Fußballwelt ist der reinste Erlebnispark. Seit sechs Jahren vermeldet die Bundesliga deshalb steigende Zuschauerzahlen, in der Saison 2004/2005 kamen mehr als zwölf Millionen Besucher. Fußball live vor Ort zu genießen ist nicht mehr das Privileg der Bier trinkenden Brüllfraktion. "Fußball ist kein Arbeitersport mehr", sagt der Architekt Herzog. Er hat längst neue Zielgruppen für sich gewonnen. Und diese haben andere Bedürfnisse, die beim Bau der neuen Arenen berücksichtigt wurden: Es gibt überall bequeme Sitze, so genannte Business-Seats für die Besserverdienenden und Logen, in die Unternehmen Geschäftspartner zum Spiel einladen. Und weil zu den Partien auch immer mehr Frauen mit ihrem Nachwuchs kommen, bieten viele Stadienbetreiber sogar Kindergärten an.
Das Finale der WM 2006
allerdings wird am 9. Juli im Berliner Olympiastadion ausgespielt, wo eine Leichtathletikbahn noch immer das Publikum vom Rasen fernhält. Das Finale bekam Berlin nur deshalb, weil es Hauptstadt ist. Denn eigentlich wäre München mit seiner Arena der idealere Ort dafür gewesen - und für die deutsche Nationalelf auch ein gutes Omen.