WM 2006 Klebekult in Tüten

Von Jakob Nienstedt
Mythen und Rituale haben Panini zum Kult gemacht. Gut vier Wochen vor der WM werden an jeder Ecke Spielerbilder getauscht und geklebt. Dem Sammelwahn erliegen nicht nur Kinder, sondern auch zahlreiche Erwachsene.

Niels hält eine kleine Tüte mit unbedeutend scheinendem, doch für ihn so wichtigem Inhalt in den Händen. Die Augen des 35-Jährigen leuchten. Hoffen und Bangen - bitte Ballack, bitte Ballack. Ein "Ritsch" und die Tüte ist auf. Vorsichtig zieht er fünf selbstklebende Bilder mit Porträts von Fußballern heraus. Douglas Sequeira (Costa Rica), schon im Besitz, Frank Lampard (England), okay, Nelson Valdez (Paraguay), auch doppelt, und schon wieder zwei Tunesier - kein Ballack, nicht mal ein Wappen. Niels Enttäuschung hält sich in Grenzen, es bleibt ja noch das Tauschen.

Erwachsene werden zu Kindern

Die einen werden es Infantilisierung der Gesellschaft nennen und nur mit dem Kopf schütteln, wenn zwei 35-Jährige einen Stapel doppelter Sticker in der Hand durchgehen - "hab ich auch, hab ich, hab ich, kann ich noch brauchen… ja, Ronaldinho! Brauchst du noch Totti?". Die anderen sind mit Leidenschaft dabei - "ein bisschen Kind sein, schadet nie". Darum ist die erste Frage am Morgen von der 34-jährigen Kathrin zum Arbeitskollegen Niels: "Hast du deine Doppelten mit?" Selbstverständlich hat er sie dabei, und kurz darauf entwickelt sich eine kleine zehnminütige Tauschbörse mit allen sammelnden Kollegen.

Tauschlust im Internet

Die Panini WM-Hefte im Internet: Panini WM 2006

Eine Online-Sticker-Tauschbörse: klebebildchen.net

"Ein magischer Moment"

Alle vier Jahre zur Fußball-WM boomt das Geschäft mit den Klebebildchen. Marktführer ist Panini, denn Panini ist Kult. Mehr als drei Millionen Alben und über 50 Millionen Tüten hat der Verlag allein in Deutschland in Umlauf gebracht. Wer glaubt, dass zur Kundschaft nur Kinder gehören, irrt gewaltig. Die Sechs- bis Zehnjährigen machen nur knapp ein Drittel der Käuferschaft aus. Dagegen sind immer mehr Erwachsene zu sehen, wie sie gespannt Tüten aufreißen und die Sticker sortieren, um sie dann sorgfältig einzukleben.

Woran liegt es, dass Dreißig- oder Vierzigjährige kleine Abziehbildchen von Fußballern sammeln und dabei über das ganze Gesicht strahlen? "Es ist der magische Moment, wenn man die Päckchen aufreißt. Die Erinnerung an die Kindheit lockert den Alltag auf - und es ist auch eine gute Vorbereitung, man lernt alle Spieler kennen", sagt Kathrin über ihre Sammellust.

Durch Kontinuität zum Kult

Mit der Fußball-WM 1970 begann der internationale Vertrieb der Bilder. Damals hatte das Album Platz für 271 Sticker, für das aktuelle Heft benötigt der Sammler 597 Bildchen. Am Design hat sich so gut wie nichts geändert: Seit der WM '82 in Spanien werden die Spielerportraits auf 49x65 millimetergroße Aufkleber gedruckt - in den Jahren zuvor waren sie nur minimal größer. Jede Mannschaft ist vertreten. Neben den Einzelportraits der wichtigsten Spieler gibt es auch noch Mannschaftsfotos, Stadien, Maskottchen und natürlich die beliebten glitzernden Wappen.

Durch diese Kontinuität hat Panini die Starter-Generation bei der Stange halten können. "Das gehört zu jedem großen Turnier dazu", sagt Bernd, ein richtiger Sammlerveteran. Dass er nicht der einzige ist, der so denkt, belegen Zahlen: Weltweit werden im italienischen Modena täglich bis zu 65 Millionen Sticker produziert und in 110 Länder exportiert. Die fleißigsten Sammler kommen aus Mexiko, die Deutschen liegen hinter den Italienern an dritter Stelle.

Nur zu gut kann sich Bernd an sein erstes Album mit den langhaarigen deutschen Weltmeistern von '74 erinnern - "Günter Netzer war ein Gott", sagt der Ü40-Sammler. Wo und ob er das Album noch hat, weiß er nicht mehr. Ähnlich geht es da Mark. Der 33-Jährige kam auf den Sticker-Geschmack, als er Anfang der achtziger Jahre auf dem Dachboden ein Panini-WM Heft von 1974 fand. Zu seinem eigenen Leidwesen hat auch Mark sein Album nicht mehr - bei Ebay wäre es heute mindestens 300 Euro wert.

Tauschleidenschaft

"Das Schönste ist eigentlich das Tauschen", weiß Kathrin den höchst kommunikativen Teil des Sammelns zu schätzen. Neben dem klassischen Tausch von Angesicht zu Angesicht gibt es diverse Möglichkeiten via Internet. Die letzten 50 fehlenden Bilder können beim Verlag bestellt werden, bei Ebay türmen sich Angebote und über zahlreiche Online-Tauschbörsen lassen sich die perfekten Handelspartner finden.

Aber nur das Tauschen von Angesicht zu Angesicht lässt die Leidenschaft zu einem gemeinsamen Event werden. Schüler tauschen mit Lehrern, selbst erstellte Excel-Tabellen und Tauschbörsen lockern den Alltag in Versicherungen, Anwaltskanzleien und Redaktionen auf. Wie früher auf dem Schulhof werden hier Gerüchte geboren. So hat Angelika, die mit 27 Jahren nun zum ersten Mal Panini sammelt, den Verdacht, dass es dieses Jahr mehr Amerikaner gibt. Auch Bernd ist sich sicher: "Die halten bewusst welche zurück - das regt die Kauflust an."

Gerüchte und Theorien

Birgit Barner von Panini kennt diese Mythen, weiß aber, dass sie diese nie zerstreuen werden kann. "Um den Gerüchten entgegenzuwirken, müssten wir mehr Ronaldinhos und Wappen drucken. Aber alle Bilder gibt es genau gleich oft, und alle Tüten und Alben sind überall auf der Welt gleich." Ihre Theorie, wie immer wieder Manipulationsgerüchte entstehen, ist, dass beliebte Bilder nicht immer nur im Album landen, sondern auch extra gesammelt oder aufgeklebt werden und somit seltener auf dem Tauschmarkt vorhanden sind.

Gerade diese Gerüchte geben dem Ganzen eine gewisse Würze. Niels verfolgt zum Beispiel die Theorie, dass er im Ausland eine andere Streuung an Bildern erhält. Daher lässt er sich immer von Freunden aus dem Urlaub oder von Geschäftsreisen Tüten aus fernen Ländern mitbringen. Aber auch diese Theorie widerlegt Brigit Barner. Ein aufwendiges Mischsystem stelle sicher, dass keine Tüte Bilder doppelt enthalte und dass alle Länder mit der gleichen Bilderhäufigkeit beliefert würden. Sie gibt lediglich einen Tipp: Die Wahrscheinlichkeit besonders viele verschiedene Bilder zu erhalten, sei in einer kompletten 100er-Box am größten.

Eine Frage der Ehre

Das Album voll zu bekommen, ist für Erwachsene ohnehin kein wirkliches Problem - am nötigen "Taschengeld" mangelt es den meisten nicht. Schon wenige Wochen nach Sammlerstart könnte man sich das Album einfach voll geklebt bei Ebay kaufen - "aber das macht ja keinen Spaß", so Bernd, und ehrenvoll sei das schon gar nicht. Auch 100 Packungen für 50 Euro auf einen Schlag zu kaufen, ersetzt nicht die Freude, nach fünf quälenden Wochen endlich Michael Ballack aus einer der drei gerade gekauften Packungen zu ziehen oder ihn gegen ein Brasilien-Wappen einzutauschen.

Der alte Sammelhase Bernd hat sich daher selbst diszipliniert. Zwar kaufte er sich gleich einen ganzen Karton voller Tüten, öffnet aber jeden Tag nur zwei davon - ein ähnliches Prinzip wie beim Adventskalender. "Das ist mein 'Opener' für die WM." Bernd grinst verschmitzt. Eine andere Art von Selbstbeschränkung ist die "Panini-Diät". Für einige Frauen gilt vor der WM und der Bikini-Saison das Motto "Klebebildchen statt Nachtisch".

Von fehlenden Spielern

Ärgern tun sich Sammler, wenn überhaupt, über fehlende Bilder von eigentlich teilnehmenden Spielern. Schon 1990 wurden im Album die Konterfeis des italienischen WM-Torschützenkönigs "Toto" Schillaci und des argentinischen Elfmetertöters Goycochea vermisst. Dieses Jahr hat es die deutsche Nummer Eins, Jens Lehmann, erwischt. Der Verlag müsse sich halt schon im Januar festlegen und hätte sich damals mit dem DFB abgestimmt, entschuldigt sich Barner. So muss der Panini-Liebhaber mit Oliver Kahn als deutschem Torwart vorlieb nehmen. Aber wer weiß, welche Rolle dieser bei der WM noch spielen wird. Und außerdem, wen interessiert Lehmann? Niels will Ballack - möglichst heute noch.

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