Jetzt hat auch die Schweiz ihr Fußball-Sommermärchen. Vielleicht nur für wenige Tage, aber die werden es in sich haben. "Das ist ein historischer Tag, das ist ein Geschenk, das wir gerne annehmen", sagte Ottmar Hitzfeld nach dem sensationellen Sieg seines Teams gegen den WM-Topfavoriten Spanien. In 48 Spielen hatte der Europameister zuvor nur einmal verloren, gegen die Schweiz in mehr als 100 Jahren nicht. Doch nun war es soweit - und das ausgerechnet im Auftaktspiel der beiden Mannschaften.
"Einfach nur Geilson"
Es war die 52. Minute, als nach einem Steilpass Gelson Fernandes mit Stürmer Eren Derdiyok wunderschön Doppelpass spielte und im zweiten Nachschuss gegen die verzweifelten Klärungsversuche von Piqué und Keeper Iker Casillas das 1:0 schoss. "Ich bin dran geblieben und habe die Chance dann genutzt", sagte Gelson Fernandes grinsend. Die Schweizer Boulevardzeitung "Blick" hatte dem Matchwinner schon kurz nach dem Spiel per Überschrift einen neuen Spitznamen verpasst: "Einfach nur Geilson".
Auch wenn nach dem Führungstreffer noch gar nichts entschieden war, elektrisierte dieses eine Tor bereits das ganze Land: Selbst die Abgeordneten des Parlaments sprangen sofort von ihren Sitzen auf und eilten, gekleidet in roten T-Shirts und mit Schals, vor die nächst erreichbaren Fernseher. Noch vor der Partie war im Bundeshaus ein Antrag gescheitert, die gerade laufende Sitzung des Parlamentes wegen des Spiels zu unterbrechen.
Das Spiel plötzlich auf den Kopf gestellt
Die Begeisterung artete sicher auch so aus, weil mit dem 1:0 der Spielverlauf nahezu auf den Kopf gestellt war. Zwar taten sich Spanier in der ersten Halbzeit noch schwer, drehten aber im zweiten Durchgang deutlich auf. Doch der Ball wollte einfach nicht ins Tor. Auch die wütende Schlussoffensive verpuffte. Zumal noch Pech hinzukam, etwa als Xabi Alonso mit einem wunderschönen Gewaltschuss in der 70. Minute die Latte traf. Spaniens Trainer Vicente del Bosque war nach den 90 Minuten bitter enttäuscht: "Das war nicht unser Tag. Uns hat die Präzision im Abschluss gefehlt."
Nicht nur das. Die Schweizer konnten sich vor allem bei ihrem Torhüter Diego Benaglio bedanken. Der Wolfsburger stand zwar hinter einer regelrechten Alpenfestung, doch was sie durchließ, hielt er dank einer bärenstarken Leistung. "Er war mit der Matchwinner", sagte Hitzfeld. Und: "Der Torwart muss über sich hinauswachsen, wenn man gegen Spanien gewinnen will." Die französischsprachige Zeitung "24heures" versteifte sich sogar auf die Behauptung, dass Benaglio nun zu den Top 10 der Keeper weltweit gehöre.
In Spanien wähnt man sich dagegen schon in einer Art Todeskampf: "Das letzte Gruppenspiel gegen Chile könnte zu einem Kampf um Leben und Tod werden", schreibt etwa "El Mundo". Die Kollegen von "Marca" stoßen ins gleich Horn: "In den Gruppenspielen gegen Honduras und Chile geht es nur noch ums Überleben."
"Chile wird so schwer wie Spanien"
Die Partie der beiden künftigen Gegner am Mittag aber zeigte, dass sich sowohl Schweizer als auch Spanier eher vor Chile als vor Honduras fürchten müssen. So sieht Ottmar Hitzfeld den Sieg gegen den Europameister vor allem als Brunnen, aus dem man Selbstvertrauen für das Spiel gegen das Team aus Südamerika schöpfen könne. "Das wird nämlich genau so schwierig wie gegen Spanien", so der Schweizer Trainer. Wenig hilfreich dürfte dabei die Verletzung von Philippe Senderos sein. Bei einem Zusammenprall mit seinem Teamkollegen Stephan Lichtsteiner hat sich der Abwehrchef am rechten Fuß verletzt. "Sollte es eine Blessur der Bänder sein, wird es schwer", sagte Hitzfeld betrübt.
Vielleicht nimmt das Schweizer Sommermärchen ein schnelles Ende. Bis dahin aber werden die Eidgenossen ihren Triumph auskosten. War das Fußball-Fieber vor Beginn des Spiels in allen Landesteilen noch verhalten, und waren nur wenige Autos mit Schweizer Fahnen geschmückt, so änderte sich das schlagartig. Wenige Minuten nach dem Abpfiff zogen Autokorsos hupend durch die Straßen Zürichs, die Fans feierten mit Vuvuzelas und sangen lauthals nur zwei Worte: "Hopp Schwyz!"
P.S.: Ist Spanien nun aus dem Kreis der Favoriten ausgeschieden? Diskutieren sie auf Fankurve 2010 der Facebook-Fußballfanseite von stern.de.