Am Schluss war es doch der alte Mann, der es richtete. Und wie es dazu kam, sagt viel aus über diese Franzosen, bei denen sich manch- mal seltsame Dinge ereignen, wenn die Jungen und Bewährten auf dem Feld zusammenstehen. Thierry Henry, 26, wendiger Hochgeschwindigkeitsstürmer, verriet es nach der dramatischen Partie gegen England. Dutzende von Mikrofonen waren auf ihn gerichtet, und er sagte: "Wir sind auf ihn zugegangen und haben ihn wie so oft beschworen: ,Zizou, mach wieder etwas Außergewöhnliches! Bring uns zurück, Zizou!""
Henry und die anderen müssen sich in diesem Augenblick genauso angehört haben wie die flehenden französischen Fans auf der Tribüne des Lissaboner Estádio da Luz. Und Zinédine Zidane, 32, der alte Mann, erhörte sie alle. Mal wieder. 90. Minute, die sind weg, die Franzosen, da waren sich alle sicher, und nun, Nachspielzeit. Zidane nahm sich den Ball, zauberte zuerst einen Freistoß ins Netz. Dann Elfmeter, wieder riefen alle: "Zizou, bring uns den Sieg" und Tor, und alles war klar. Danke, Zizou.
Sie sind wieder da, die Franzosen. Bei der WM 2002 waren sie ausgeschieden, ohne ein Tor zu schießen. Warum? Weil Zidane angeschlagen war, die Mannschaft platt zum Turnier kam: Alle hatten zuvor pausenlos, weil unverzichtbar, bei ihren Spitzenclubs gespielt, bis zum Anschlag. Ihre Zeit schien abgelaufen, adieu. Und diesmal? Sie haben vor dem Turnier eine Woche miteinander verbringen können, ohne zu trainieren, haben entspannt und ihre Hochleistungskörper regeneriert. Jetzt spielen sie so frisch, als stünden sie vor Beginn einer Spielzeit und nicht am Ende einer abermals strapaziösen. Wer soll uns stoppen? Die Engländer mit einem Treffer nach einem Freistoß, King und Campbell, Londoner Zement im Strafraum, die konnten das, 90 Minuten lang und doch drei zu wenig. Aber wer sonst? Von nun an wohl keiner.
Die Franzosen sind bei diesem Turnier gefährlicher denn je. Sie haben über Jahrzehnte gelernt, zweifelsfrei an ihre Weltklasse zu glauben. Und nun haben sie zu allem Überfluss auch noch etwas zu beweisen. Die alten Helden wollen die Schmach von 2002 vergessen machen, sie wollen nach der WM 1998 und der EM 2000 mit einem großen Titel gehen, es könnte das letzte Turnier der Zidanes, Desaillys, Barthez", Thurams und Lizarazus sein. Aber es sind nicht nur sie, die das Team so furchterregend erscheinen lassen.
Santo Tirso, ein Kaff bei Porto, das Trainingscamp der Franzosen: Während im großen Nebenraum der große Zidane mit frisch geschorenem Kopf an einem Tisch sitzt und der Presse von jenem Albtraum 2002 erzählt, der ihn verfolgt und den er endlich los werden will, lehnt sich in der Halle Patrick Vieira in seinen Stuhl, spricht sanft und höflich und sagt: "Wir haben viele junge Spieler in unserer Mannschaft, und die wollen beweisen, dass sie es verdienen. Dass wir so gut sind wie 1998 und 2000. Wir wollen zeigen, dass wir die Besten sind." Die Jungen also auch noch, nicht gerade beruhigend. Vieira, so freundlich er wirkt, ist ohnehin kein beruhigender Typ. 28 Jahre alt, in Dakar geboren, in London nennen sie ihn schon länger "Le Long", den Großen. Er ist Kapitän beim britischsten aller Klubs, bei Arsenal, und das als Ausländer. Sein Vereinskollege Robert Pires schwärmt noch heute von jener Szene nach dem Match gegen Aston Villa, als er wegen einer vermeintlichen
Unsportlichkeit im Kabinengang von den Gegnern bedrängt und angepöbelt wurde, laut war es, hitzig und gefährlich, aber plötzlich schwiegen alle und gingen weg. Pires drehte sich um. Hinter ihm stand Vieira, der Hüne. Das reichte. Gegen England war Vieira hinter Zidane der Herr über das Mittelfeld. Und er war es, der die Kontrolle über das gesamte Spiel an sich riss, als der Chef seine Kunstpausen einlegte.
Sicher, wenn es dann um die Entscheidung geht, wenn man einen Zidane hat, dann lässt man es den Zidane auch machen. Aber keiner aus der jungen Garde zweifelt, dass sie es auch selbst könnten. Beim Presserummel in Santo Tirso dreht Henry sich auf einem Bürostuhl, er witzelt, antwortet auf Französisch, Englisch, Italienisch, alles fließend. Thierry, du wirkst sehr entspannt? "Natürlich", sagt Henry, und erzählt: "Das ist ein Spiel, ich versuch, gut zu spielen, das ist alles. So sehe ich die Dinge."
Es ist zu befürchten, dass er die Dinge wirklich so sieht, die Kroaten könnten es spüren und dann die Schweizer: dass er kann, wovon andere nur träumen. Henry tritt schneller an als ein Pferd, und das mit Ball. Er dreht sich fix wie ein Kreisel, der Gegner ist oft schon ins Leere gelaufen, bevor der Ball überhaupt bei Henry landet. Und der Abschluss: nie mit Gewalt, immer mit Gefühl und dem Blick für die Stellungsschwäche des Torwarts. In Frankreich ist Henry schon jetzt fast so groß wie Zidane. Bei seinem Klub - er spielt ebenfalls für Arsenal - traf er in den letzten beiden Spielzeiten 54-mal. Sein Vereinstrainer Arsène Wenger sagt: "Henry besitzt alles, um der Beste der Besten zu sein."
Der Stürmer ist langsam zu dieser Größe gewachsen, genauso wie Trézéguet, Vieira oder Gallas. Er ging mit 21 von Monaco zu Juventus Turin, harte Zeit, man hielt ihn dort für einen Außenstürmer, Schnapsidee, 16 Spiele, nur drei Tore. Arsène Wenger erlöste ihn und holte Henry nach London, als zentralen Angreifer. Vieira wiederum musste sich beim AC Mailand und Arsenal durchbeißen, um sich einen Stammplatz im Nationalteam neben den alten Stars zu erkämpfen, weil die spielen, solange sie gut sind. Sind sie noch immer. Aber wer von den Jungen deshalb auf der Reservebank sitzen muss, reift auf hohem Niveau woanders, im Verein, er spielt etwa wie Rothen und Giuly mit Monaco im Champions-League-Finale oder eine harte englische und europäische Saison für "ManU" wie Saha. Die Franzosen haben, bevor sie Stammspieler sind, schon mehr große internationale Schlachten geschlagen als mancher Deutsche mit 30 Länderspielen. Sie müssen reif sein. In jeder Hinsicht. Frankreichs Nationalelf hat immer ausgezeichnet, dass sich jeder ihrer Großen im Team nie für den Größten hält. Nach dem Debakel in Asien vor zwei Jahren hat keiner die Schuld beim anderen gesucht. Das ist ein Tabu, die Équipe Tricolore fühlt wie eine große Familie. Das lernen auch gleich die jungen Spieler. Bei der WM 1998 saßen Henry und Vieira am Frühstückstisch, als Frank Leboeuf den Saal betrat. Der sollte seine Chance auf einen Einsatz bekommen, weil Kapitän Laurent Blanc nach einer roten Karte gesperrt worden war, und hatte es gewagt, sich vor der Presse etwas zu demonstrativ zu freuen. Die Kollegen an den Tischen schwiegen, sie winkten nur mit den Zeitungen. Alles klar. So wird die nächste Generation erzogen. Henry jubelt nur selten, wenn er trifft. "Ich mag aus meinen Toren kein Open-Air-Kino machen", sagt er. "Ich finde das ungerecht gegenüber den Jungs, die einem den Ball vorgelegt haben." Demut ist ein gutes Wort, haben sie gelernt. Klar, am Ende gewinnen die Franzosen. Aber vorher wehrt sich Zidane vor der Presse gegen die allgemeine Auffassung, er sei der beste Spieler der Welt. Lobt Vieira die Stärke der gegnerischen Abwehr. Und Henry Englands Stürmer Rooney. Guter Stil, alte Schule.
Und diese Schule gibt es wirklich. "Centres de Préformation" nennen die Franzosen ihre Ausbildungsstätten, wo Technik und Spielverständnis statt Kondition und Kraft gelehrt werden. Und Teamgeist. So produziert ein Land komplette Fußballer.
Viele haben die gleiche Geschichte: arme Kinder von Einwandererfamilien aus den Kolonien, aufgewachsen in schäbigen Vororten. Henry teilte sich die Fußballschuhe mit dem Papa, William Gallas musste seinem Vater versprechen, es nach oben zu schaffen, sonst hätte der ihn mit zurück nach Guadeloupe genommen. So gehen die Geschichten der Jüngeren. Man kennt sie schon, von Zidane, dem Algerierkind aus Marseille, oder Desailly, dem adoptierten Jungen aus Ghana. Man weiß, wie sie weitergehen. Die Geschichten der Unterprivilegierten, denen die Fußball-nation mit perfekter Ausbildung ihren Traum erfüllte, und sich selbst den ihren: Titel, Titel, Titel. Davon könnte es den dritten innerhalb von sechs Jahren geben. Mit den Jungen, den Bewährten, und Zidane spielt zur Sicherheit halt auch noch einmal mit. Kein Zweifel: Sie sind wieder da, die Franzosen. Und man wird das Gefühl nicht los, dass sie so schnell auch nicht wieder weg sein werden.
Bernd Volland