Vor mehr als neun Jahren stand die deutsche Nationalmannschaft letztmals in einem Finale. Flanke Schürrle, Schuss Götze, Deutschland schlägt Argentinien 1:0 und ist Weltmeister. Damals an der Seitenlinie im Estádio do Maracanã von Rio de Janeiro: Assistenztrainer Hansi Flick.
Jetzt hat Flick sein nächstes Endspiel erreicht, eines allerdings, auf das er wohl gern verzichtet hätte. An diesem Samstag (20:45 Uhr, RTL) trifft das von ihm betreute DFB-Team auf Japan. Sollte die Partie verloren gehen und die Mannschaft auch drei Tage später gegen Frankreich nicht überzeugen, wird er nicht mehr im Amt zu halten sein.
Flick scheint das selbst zu ahnen. Bei der Vorstellung seines Kaders für die beiden Testspiele sagte Flick: "Am Ende geht es um Ergebnisse, das weiß ich auch."
Der Bundestrainer wackelt, und obwohl dieses Sprachbild abgegriffen ist, beschreibt es die Situation des 58 Jahre alten Fußball-Lehrers treffend. Seit der missratenen WM in Katar, die für die Deutschen bereits nach der Gruppenphase beendet war, ist Flick ein Wankender. Er probiert dies und jenes aus, lässt wahlweise mit Dreier-, Vierer- oder Fünferkette verteidigen, wechselt das Personal durch, versucht sich als einfühlsamer Spielerversteher und dann wieder als verbales Rauhbein ("Ich habe keinen Bock mehr darauf, Spiele zu verlieren, es kotzt mich an!"), bloß eines ändert sich nicht: die Leistung seiner Mannschaft auf dem Platz.
In diesem Jahr hat sie erst eine Partie gewonnen (2:0 gegen Peru), einmal Remis gespielt (gegen die Ukraine) und drei Mal verloren (gegen Belgien, Polen und Kolumbien). Eine ernüchternde Bilanz für Flick, der im August 2021 geholt worden war, um die Mannschaft aus der Lethargie der späten Löw-Jahre zu reißen. Jetzt steht er sogar schlechter da als sein Vorgänger; nur Erich Ribbeck hatte als Bundestrainer einen schlechteren Punkteschnitt als Flick. DFB-Sportdirektor Rudi Völler wird Flick nicht weiter in Schutz nehmen können, wenn gegen Japan und Frankreich kein Fortschritt zu erkennen ist. Im nächsten Jahr findet die EM in Deutschland statt – und die muss unbedingt ein Erfolg werden. So sehen sie das beim Verband.
Schon jetzt ist eine Debatte um den Zustand der Männer-Nationalmannschaft entbrannt. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte Matthias Sammer: "Seien wir doch mal ehrlich: Wir liegen am Boden." Der deutsche Fußball befinde sich "in der größten Krise", die sogenannten deutschen Tugenden seien verloren gegangen, die Siegermentalität auch. Es war eine harsche Abrechnung von Sammer, Europameister 1996 und später in verschiedenen Funktionen bei Borussia Dortmund, dem FC Bayern und dem DFB tätig. Flick reagierte überraschend defensiv auf Sammers Worte: "Für ihn ist immer das große Bild entscheidend, er brennt für die Sache. Es ist nicht immer bequem, aber immer gut, einen solchen kritischen Geist dabeizuhaben."
Zu schwach für die Leitung?
Dass Flick dazu übergegangen ist, seine Kritiker zu umarmen, zeigt, wie schwach seine Position mittlerweile ist. Auch Sportdirektor Völler antwortete milde auf die Anwürfe: "Ich bin mit Matthias im Austausch, er ist mit seinen Aussagen oft sehr direkt, manchmal überzeichnet er auch ganz bewusst. Mit vielen Dingen hat er auch recht."
Formal ist Völler derzeit der mächtigste Mann im DFB; ihm obliegt die Oberaufsicht über den Sport. Doch Völler, der sich im Februar von einer eigens gegründeten Task Force beknien ließ, den Job des zurückgetretenen Oliver Bierhoff zu übernehmen, wirkt amtsmüde. Schon bei seiner Vorstellung verbreitete er wenig Aufbruchstimmung; seine Lebensplanung sei eigentlich eine andere gewesen, sagte Völler, der bei seinem Verein Bayer Leverkusen die Geschäftsleitung bereits im Sommer 2022 abgegeben hatte.
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Gerade jetzt aber bräuchte der Verband Führung. Es bräuchte jemanden, der Hansi Flick spiegelt und dessen Arbeit kritisch begleitet. Zuletzt, bei den Länderspielen im Juni, hatte sich Flick verrannt. Seine Mannschaft, noch immer verunsichert von der enttäuschenden WM, destabilisierte er zusätzlich durch Personalrochaden. Und nach jedem misslungenen Spiel beteuerte Flick, man sei "auf einem Weg", "mache einen Prozess durch" und so fort. Die Botschaft lautete: Läuft nicht, aber das ist Teil des Plans. Wir haben alles unter Kontrolle.
Die Mär vom kontrollierten Systemabsturz hat jedoch bei den Spielern nicht verfangen, das wurde am Dienstag in Wolfsburg deutlich, wo sich das DFB-Team auf die Partie gegen Japan vorbereitet. "Wir sind mit einem riesigen Scheißgefühl in die Sommerpause gegangen", sagte Flügelspieler Robin Gosens. "Wir haben eine unfassbare Qualität, aber ich verstehe jeden, der daran nicht so glaubt." Nun sei die Mannschaft in der Pflicht, dem Trainer zu helfen. "Wir sind ihm etwas schuldig. Jedem ist der Ernst der Lage bewusst."
Flick steckt in der schwierigsten Phase seiner Trainerkarriere, das spüren auch seine Spieler. Noch nie waren die Zweifel an ihm so groß. Beim FC Bayern hatte er noch als eine Art Wundertrainer gegolten. Binnen eines Jahres holte er sechs Titel, darunter die Champions League 2020 (mit einem unwirklich anmutenden 8:2 gegen Barcelona im Viertelfinale). Auf alles, was Flick in München anfasste, schien sich Goldstaub zu legen.
Diesen Flick gibt es nicht mehr. Spätestens seit der WM in Katar ist seine Heldenreise zu Ende. Was ihn beim DFB bislang rettet, ist auch sein hohes Gehalt. Mit angeblich 6,5 Millionen Euro pro Jahr gilt Flick als bestbezahlter Nationaltrainer der Welt; seine Abfindung dürfte teuer werden. Zu teuer womöglich für den Verband, der finanziell klamm ist – ironischerweise wegen der Misserfolge des Männerteams, der wichtigsten Erlösquelle des DFB.