Der 6. Oktober 2006, was war das doch für ein schmucker Tag für deutsche Fußball-Fans. In den Kinos startete Sönke Wortmanns Film "Deutschland. Ein Sommermärchen". Während der WM einige Monate zuvor war der Regisseur unentwegt nah dran, die Kamera hatte draufgehalten, fing ein euphorisierendes Sportspektakel ein, im Fokus ein deutsches Team, das sich unter Jürgen Klinsmanns Zepter gegen viele Widerstände und innere Schweinehunde auf den dritten Platz bei diesem Turnier kämpfte. So oder ähnlich hatte man es sich wohl auch in der PR-Abteilung des DFB für die WM 2022 erhofft, als man die Verträge mit Amazon über die Katar-Serie unterzeichnete.
Doch es kam alles ganz anders, die rhetorische Frage im Titel der Reihe, "All or Nothing", ist längst beantwortet.
Alles? Nichts!
Doch im Entertainment wie auch im Fußball gilt die eiserne Regel: The show must go on. Und: Vertrag ist Vertrag. Also gibt es ab Freitag "All or Nothing: Die Nationalmannschaft in Katar" auf Amazon Prime zu sehen, in vier, statt wie geplant sechs Episoden wird das Fiasko vom Gruppen-Aus in der Wüste noch einmal aufgerollt.
Kimmich fetzt sich mit Süle, Rüdiger mit Kimmich
Winter-Albtraum statt Sommermärchen: Kimmich fetzt sich mit Süle. Rüdiger mit Kimmich. Mal geht es um Respekt, dann wieder um fehlende Abstimmung. Kimmich will mehr Bewegung. Süle schaltet auf Durchzug: "Was die kleinen Fische hier sagen, interessiert mich nicht!". Nun denn, was die großen Fische sagen, scheint hier auch niemanden so recht zu interessieren. Da stapft Hansi Flick nach dem verlorenen Auftaktspiel gegen Japan in die Kabine und kann das eben Erlebte kaum fassen. "Fuck off", entfährt es dem sonst so ruhigen Übungsleiter, ein Gemütszustand, der sich in den ereignisreichen Tagen, die folgten, kaum ändern sollte.
Draußen diskutierte Fußball-Deutschland und der Rest der Welt derweil über Dinge wie die "One Love"-Binde, gekaufte Fans und ein gekauftes Turnier, über die Aufstellung und die Ansetzung. Im inneren Kreis ging es noch spaßbefreiter zu, als sich das der größte Stammtisch-Pessimist wohl ausgemalt hätte. Wasserfälle auf die Mühlen desillusionierter Fußball-Romantiker: Szenen wie die im großen Konfi des Mannschaftshotels. Da werden aufwändige Präsentationen an die Wand geworfen, Tierfilme über Gänseschwärme und animierte Abwehrreihen gezeigt, die Zuschauer im Saal, die Schlotterbecks, Raums, Goretzkas und wie sie alle heißen, wirken so euphorisch, als säßen sie in der Eistonne.
Interessant auch Flicks Forderung nach offener Diskussion: Als Kimmich leise die Fünferkette in Frage stellt, sinkt die Raumtemperatur um einige Grad, Flicks Halsschlagader schwillt, auf dem Beamer bilden sich Eiskristalle. So war das dann wohl doch nicht gemeint. Wer überhaupt noch den Traum vom eingeschworenen Team träumte, wacht spätestens hier mit zerzausten Haaren und aufgerissenen Augen auf – keine packende Kabinen-Atmo, stattdessen eine Stimmung im Saal, als hätte man einem Haufen Shareholdern grad die Folien vom Kursverfall präsentiert.
Manuel Neuer pflanzt einen Baum. Julian Brandt kommt zu spät
Nach oben geht das Stimmungsbarometer, kaum überraschend, eher selten. Als die Familien zu Besuch kommen etwa. Als Costa Rica gegen Japan gewinnt und dadurch den Druck auf die deutsche Mannschaft im bevorstehenden All-or-nothing-Spiel gegen Spanien etwas mindert. Als Füllkrug erst eine fulminante Rede hält, dann ein fulminantes Tor schießt. Und sonst? Manuel Neuer pflanzt einen Baum. Julian Brandt kommt zu spät. Der Scheich zeigt seinen Palast. Und Hansi flucht. Ein Sehvergnügen wie das schiefe Bild vom Verkehrsunfall: Schlimm, schlimm, schlimm, das alles, aber wegschauen? Unmöglich.
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Da fügt es sich nun tragischerweise, dass auch der Umgang mit der von Regisseur Christian Twente inszenierten Serie am Ende keine Ideallösung bietet. Am kommenden Wochenende trifft Deutschland ausgerechnet auf Japan, am Dienstag drauf ist Vize-Weltmeister Frankreich der Gegner, zudem steht im nächsten Jahr die Heim-Euro an. Sommermärchen-Wahrscheinlichkeit? Stand jetzt: eher gering. Dass "All or Nothing: Die Nationalmannschaft in Katar" ausgerechnet jetzt gezeigt wird? Siehe oben: Vertrag ist Vertrag, die Optionen der PR-Abteilung des DFB wie in einer griechischen Tragödie. Zwei Möglichkeiten – beide falsch. Hätte man die Serie gestoppt, der Medienwirbel wäre kaum auszumalen. Geheimniskrämerei! Manipulation! Vertragsbruch! Jetzt zeigt man die Serie also, auch das nicht richtig: Schlechtes Timing! Miese Werbung! Nun läuft sie an und wird halt geschaut. Oder eben nicht. Wie hieß es einst bei Dragoslav "Stepi" Stepanović?
Lebbe geht weider. Eben. Drum.
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