Natürlich war das, was am Abend des WM-Siegs der Spanierinnen zwischen dem mittlerweile von der Fifa suspendierten spanischen Fußball-Präsidenten Luis Rubiales und der Spielerin Jennifer Hermoso passierte, kein Kuss. Es war auch kein harmloser Moment der Freude, wie hierzulande einige Fußball-Rentner fachsimpelten. Auf Videos, die den gesamten Ablauf zeigen, sieht man deutlich, dass Rubiales zunächst an der Sportlerin hochspringt, sie mit den Beinen umklammert und dabei seinen Schritt an ihren Unterleib presst. Dann greift er mit beiden Händen ihren Hinterkopf und drückt ihre Lippen auf seine. Schon vorher hatte er sich während des Jubelns zwischen die Beine gefasst. Offenbar ist Rubiales jemand, der engen Kontakt zu seinen "Cojones" sucht.
Er ist aber auch einer der wichtigsten Männer im spanischen Fußball und damit so etwas wie Jennifer Hermosos Vorgesetzter. Er ist außerdem, auch das gehört zur Geschichte, ein hochrangiger Funktionär, der sich bisher trotz diverser Skandale stets auf seinem Posten halten konnte. Schon im Vorfeld der WM hatte es außerdem Unstimmigkeiten zwischen den Fußballerinnen, dem Verband und dem Trainer gegeben – Jennifer Hermoso war eine der Spielerinnen, die sich öffentlich mit jenen "Rebellinnen" solidarisiert hatte, die das Nationalteam bei dieser WM aufgrund verschiedener Vorfälle boykottiert hatten.
Insofern hinkt der Vergleich, nach dem die Situation so gewesen sei, als habe Angela Merkel beim WM-Sieg 2014 Philipp Lahm geküsst. Merkel hat keinen Einfluss auf die Karriere von Fußballern. Die Szene zwischen Rubiales und Hermoso war auch mehr als eine testosterongesteuerte Übergriffigkeit. Es war die Machtdemonstration eines Mannes, der glaubt, sich alles erlauben zu können. Die Geste eines Chefs, der seiner aufrührerischen Torjägerin im Moment ihres größten Triumphs mal kurz klar macht, wer den Längeren hat. Darum ist es auch egal, ob die Spanierinnen im Mannschaftsbus zunächst über den Kuss gelacht haben. Oder ob ein Mann "heutzutage" noch ungefragt eine Frau küssen darf. Interessanter ist, wie Rubiales auf den Vorwurf des entwürdigenden Übergriffs reagiert – denn es steckt ein Schema dahinter.
Phase 1: Abstreiten oder: "Es ist doch gar nichts passiert"
Als unmittelbar nach dem forcierten Kuss erste Kritik an Rubiales laut wird, macht dieser schnell klar: Nicht Außenstehende entscheiden darüber, ob sein Verhalten unangemessen war – sondern ganz allein er selbst. Es gebe "überall Idioten", sagte er zu den Vorwürfen, um diesen "Blödsinn" werde er sich nicht weiter kümmern. In einem weiteren Statement wiederholte er später, dass die Empörung "von außen" käme, während "wir" – also er und die Mannschaft, sollte das wohl heißen – die Geste als "etwas Normales" ansahen. Krisenmanager empfehlen im Zweifel genau das: Bei der "Denial-Strategie" wird einfach geleugnet, das irgendetwas vorgefallen sei. Gleichzeitig werden die Kritiker angegriffen: In diesem Fall beschuldigte Rubiales die "Öffentlichkeit", die Freude über den WM-Sieg mit ihren Äußerungen zu beschädigen. Damit meinte er wohl auch feministische Politikerinnen, die sich zu Wort gemeldet hatten.
Kombiniert mit einer machtvollen Position kann diese Strategie besonders effektiv sein: Die Vorwürfe werden weggewischt und verblassen schnell. Noch wirksamer ist sie, wenn Betroffene die These mittragen. Wie inzwischen bekannt wurde, soll Jennifer Hermoso vom spanischen Fußballverband zu einem Statement gedrängt worden sein, das Rubiales' "Nichts-passiert"-Aussagen bestätigt. Damit wäre die Sache vom Tisch gewesen. Hermoso hat das jedoch verweigert.
Phase 2: Kleinreden oder: "Wir müssen die Kirche im Dorf lassen"
Nachdem die Spielerin nicht mitzog und auch die Empörung in der spanischen Öffentlichkeit anhielt, ging Rubiales argumentativ in die zweite Phase nach dem Motto: Alles nicht so schlimm, schließlich geht es um Fußball, das versteht ihr nicht. "Diminish", abschwächen, heißt hier das bewährte Rezept. Sexuelle Belästigung und erniedrigende Gesten gegenüber Frauen werden oft als "temperamentvolle Ausrutscher" kleingeredet und ein Mann kann dabei noch immer auf den Zuspruch vieler Geschlechtsgenossen bauen. In Deutschland fand es u.a. Karl-Heinz Rummenigge "voll okay", was Rubiales gemacht hatte, Emotionalität sei wichtig, man müsse die Kirche im Dorf lassen. In Spanien, auch darauf kann Rubiales sich verlassen, sehen das viele ähnlich. In seinem Statement gegenüber dem spanischen Fußballverband entschuldigte er sich folglich nicht bei der Spielerin, sondern bei jenen, die den Kuss "anders gesehen" haben – nämlich, aus seiner Sicht: falsch. Er holt sich also argumentativ die Deutungshoheit über den Vorfall zurück, den er als "etwas Natürliches, ohne böse Absicht" bewertet. Um das zu untermauern, zog er Allgemeinplätze heran, die nichts mit der Sache zu tun haben: Man müsse "zwischen Wahrheit und Lüge" unterscheiden, so Rubiales auf einer Versammlung des nationalen Fußballverbands. Im Sinne des Kleinredens bedeutet das: Der Vorfall ist doch nur eine Bagatelle. Wer etwas anderes sagt, lügt. Mehrfach wiederholte Rubiales außerdem, worum es ihm wirklich geht: "Ich werde nicht zurücktreten."
Gleichzeitig begann der Gegenangriff des Verbands gegen Jennifer Hermoso, die beschuldigt wurde, Rubiales an sich gezogen und hochgehoben zu haben (was inzwischen angesichts der Videos widerlegt sein dürfte).
Phase 3: Angreifen oder: "Ich bin das Opfer"
Wenn sich Anschuldigungen weder gänzlich weg- noch kleinreden lassen, bleibt als Alternative noch das "Scapegoating" – man sucht einen Sündenbock als Schuldigen. Beim Versuch, Vorwürfe sexueller Belästigung zu entkräften, werden meist die Betroffenen und ihre Unterstützer als "die wahren Täter" identifiziert: Spaniens Fußballverband drohte Jennifer Hermoso mit rechtlichen Schritten. Rubiales selbst inszeniert sich als Opfer eines Komplotts: "Es wird ein sozialer Mord verübt", sagte er in seinem Statement. "Sie versuchen, mich zu töten." Mit "sie" meint er offenbar all jene, die seiner Argumentation nicht folgen. Außerdem sieht er sich – im aufgeladenen gesellschaftlichen Kontext eine bequeme Rolle – als Opfer einer feministischen Bedrohung: Der "falsche Feminismus" sei die "große Geißel dieses Landes", so Rubiales. Und stellte Jennifer Hermosos Anschuldigungen, ohne ihren Namen zu nennen, als heuchlerisch dar: "Was muss eine Frau denken, die wirklich sexuell missbraucht wurde?" Männer wie er – und nicht etwa Hermoso und andere "Feministinnen" – sollen offenbar entscheiden, wann eine Frau das Recht hat, sich zu beschweren.
Es geht nicht um einen "Kuss" auf die Lippen. Es geht darum, dass Jennifer Hermoso unmittelbar nach dem Vorfall sagte: "Es hat mir nicht gefallen. Aber was soll ich machen?" Sie hat trotzdem entschieden, sich zu wehren. Sie hat viele Unterstützerinnen und Unterstützer gefunden – auch, weil endlich sichtbar wird, dass hinter Vorfällen wie diesem ein Prinzip steht und kein individueller Patzer. Es geht um die Frage, wie wir als Gesellschaft mit diesem und dem nächsten Rubiales umgehen. Und dem danach.