Athen 2004 stern-Serie Laufend Tragödien

Die Geschichte des olympischen Marathons, 1896 bei den Spielen in Athen eingeführt, ist reich an Dramen und Kuriositäten.

Seine glasigen Augen konnten die Ziellinie kaum sehen, obwohl sie so nah war. Nur noch ein paar Schritte, noch eine letzte Anstrengung bis zum Triumph. Dorando Pietri, zermürbt von mehr als 42 Kilometer Lauf, taumelte, stürzte, rappelte sich wieder hoch, stürzte erneut. Jack Andrew, der Organisator dieses Marathonlaufs 1908 in London, half dem Italiener aus Mitleid wieder auf die Beine. Gemeinsam überquerten sie die Ziellinie. Das kostete Dorando Pietri den Sieg: Er wurde wegen "unerlaubter Hilfe" disqualifiziert.

Die Niederlage machte Pietri zum wahren Gewinner. Seine Geschichte rührte die Menschen so sehr, dass zum Beispiel die Leser der Zeitung "Daily Mail" mehr als 300 Pfund für Pietri spendeten. Und in seinem Heimatort Carpi überreichten ihm die Einwohner nach der Rückkehr 1496 Lire. Mit dem Geld eröffnete der Athlet einen Bäckerladen.

Mit dem Sieg über die Perser fing alles an

Baron Pierre de Coubertin hatte den Marathonlauf bei den ersten Olympischen Spielen 1896 in Athen eingeführt. Die Legende vom Läufer, der 490 v. Chr. von Marathon nach Athen rennt, den Griechen die Nachricht vom Sieg über die Perser überbringt und dann tot zusammenbricht, hatte den Baron beeindruckt. Nicht nur Pietris Drama knüpfte bei den Spielen der Neuzeit an diese Geschichte an. Der olympische Marathon war immer für Tragödien oder auch Kuriositäten gut. In Paris gewann 1900 Michel Théato, der die Wege durch seine Heimatstadt wie kein anderer kannte. Seine Konkurrenten aus Amerika hingegen mussten oft nach der nicht markierten Strecke fragen und behaupteten nach dem Rennen, sie seien von Zuschauern absichtlich in die falsche Richtung geschickt worden. Ein Polizist, der dem schwedischen Läufer Ernst Fast irrtümlich die falsche Straße gewiesen hatte, soll sich später aus Gram darüber das Leben genommen haben.

Unsportlicher Gewinner

Vier Jahre danach, in St. Louis, stahl Fred Lorz dem Sieger die Show. Er stieg nach 19 Kilometern in ein Auto, ließ sich an die zweite Stelle des Feldes fahren und lief die letzten zehn Kilometer. So überholte er den führenden Thomas Hicks und wurde im Ziel als Sieger gefeiert. Während er sich mit der Schirmherrin der Spiele, der Präsidententochter Alice Roosevelt, fotografieren ließ, wurde der wahre Gewinner, der Engländer Hicks, kaum beachtet.

1912 in Stockholm kam es zu einem Todesfall beim olympischen Marathon. Ausgezehrt und ausgetrocknet brach der Portugiese Francisco Lazaro in der Mittagsglut zusammen. Er starb auf der Strecke. Am selben Rennen nahm auch der Japaner Shizo Kanaguri teil. Nach 30 Kilometern ließen seine Kräfte nach. Er wurde immer langsamer. Als er an einem Haus vorbeikam, vor dem ein Mann ein Glas Saft trank, bat er um eine kleine Erfrischung. Der Mann führte ihn ins Haus, und Kanaguri beschloss, sich auf einer Liege kurz auszuruhen. Er schlief ein und wachte erst am nächsten Tag wieder auf.

Der Lauf des Lebens

1967 kam der mittlerweile 76-jährige Professor nach Stockholm zurück. Shizo Kanaguri setzte seinen Lauf an der Stelle fort, an der er ihn 1912 abgebrochen hatte - nach 54 Jahren, acht Monaten, sechs Tagen, 32 Minuten und 20,3 Sekunden kam er ins Ziel.

Christian Meyer

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