Emotionaler Kollaps nach Drama Das Rätsel um Ski-Star Mikaela Shiffrin

Von Tobias Nordmann
Mikaela Shiffrin
Nach der Enttäuschung offenbart Mikaela Shiffrin die Sehnsucht nach ihrem toten Vater Jeff
© JEAN-CHRISTOPHE BOTT / Picture Alliance
Dass Mikaela Shiffrin mal einen fatalen Fehler auf Skiern macht, das kommt höchst selten vor. Fast unmöglich scheint, dass der amerikanische Superstar zweimal nacheinander patzt. Doch genau das passiert bei den Olympischen Spielen. Und wieder passiert es ausgerechnet im Slalom.

Der Slalom ist eine äußerst prekäre Angelegenheit. In keinem anderen Wettbewerb des alpinen Skisports ist der Tanz zwischen Ski und Stange so eng wie in dieser Disziplin. Niemand weiß das besser als Mikaela Shiffrin. Und eigentlich beherrscht auch niemand dieses schnelle, heiße Hin und Her in knapp unter einer Minute besser als die Amerikanerin. 47 (!) Mal hat die 26-Jährige bereits im Slalom triumphiert. Mehr Siege hat niemand gefeiert. Nicht Ingemar Stenmark, der erfolgreichste Skifahrer der Geschichte. Auch kein Alberto Tomba, kein Marcel Hirscher, keine Marlies Schild, keine Vreni Schneider. Die größte Legende im Stangenwald ist Mikaela Shiffrin.

Aber in den olympischen Tagen von Peking schreibt sie bislang keine neue Heldengeschichte. Ihre Erzählung ist ein sich fortsetzendes Drama – und sie selbst malt an diesem Mittwoch das passende Bild dazu in den Schnee. Fünf Sekunden kämpft Shiffrin um ihr zweites olympisches Gold in ihrer Lieblingsdisziplin bei der dritten Teilnahme an den Winterspielen. Fünf Sekunden, die mit einem banalen Fehler enden. Wie schon wenige Tage zuvor im Riesenslalom. Die Frau, die kaum Fehler macht, patzt. Und das nun gleich zweimal. In den USA, wo die Geschichten von aufgestandenen Helden epischer abgefeiert und inszeniert werden als sonst wo, steht die olympische Welt kurz still. Beim Sender NBC ringen sie nach Worten – und finden sie nicht. Die Kommentatoren stammeln sich ein "Wie kann das sein?" zusammen. Es ist tatsächlich die Frage aller Fragen. Gab es wieder Probleme mit der Gesundheit, wie 2018, als sie sich vor dem Start übergeben musste (und Vierte wurde)?

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Shiffrin wird später versuchen sie zu beantworten, aber nun, nach ihrem Fehler, sitzt sie im Schnee, auf diesem weißen Band in staubtrockener Umgebung. Was für eine Szene! 15 Fahrerinnen lässt sie an sich vorbeirauschen. 15 Fahrerinnen, die ihren Traum auf dieser Kunstschnee-Piste noch leben – und später in aller Grausamkeit dieses Wettbewerbs ernüchtert werden, wie die Deutsche Lena Dürr, die als Führende des ersten Durchgangs im Finale nur auf Rang vier landet. Was Shiffrin in diesem Moment einsam abseits der Strecke denkt? Niemand weiß es. Was sie empfindet? Wut, Trauer? Aus ihr ist kaum etwas herauszulesen. Sie sitzt da, die Arme vor dem Körper verschränkt. Leere. Sonst nichts. Ein Moment, der um die Welt geht.

Bewegende Liebesbotschaft für Shiffrin

"Wenn man sich dieses Bild anschaut, kann man sich so viele Aussagen, Bedeutungen und Gedanken machen. Die meisten von euch sehen es wahrscheinlich mit den Worten: 'Sie hat es verloren', 'Sie kann mit dem Druck nicht umgehen' oder 'Was ist passiert?'", schrieb ihr Lebensgefährte Aleksander Aamodt Kilde in einem bewegenden Instagram-Post. Ihn frustriere das. "Ich sehe nur eine Spitzensportlerin, die tut, was eine Spitzensportlerin tut! Es ist ein Teil des Spiels und es passiert. Der Druck, den wir alle im Sport auf Einzelpersonen ausüben, ist enorm, also lasst uns die gleiche Unterstützung zurückgeben. Es dreht sich alles um das Gleichgewicht und wir sind ganz normale Menschen!! Ich liebe dich Kaela", schrieb der 29-Jährige.

Momente wie diesen kennt man von der US-Amerikanerin nicht. Momente wie diesen kennt sie wohl von sich selbst nicht. "Natürlich ist der Druck groß, aber das war nicht das größte Thema heute. Ich wollte die aggressivste Linie fahren. Ich bin mit starker Mentalität gestartet - dann war ich draußen", sagte sie. Eine kühle Analyse einer professionellen Athletin. Eine Analyse voller Adrenalin. Auf die später der emotionale Zusammenbruch folgt.

Die megadominante Skifahrerin der vergangenen Jahre vergoss herzzerreißende Tränen der Enttäuschung und berührte die olympische Gemeinschaft mit der verzweifelten Sehnsucht nach ihrem toten Vater, der für sie der wichtigste Anker in schwierigen Momenten war. "Ich würde ihn jetzt wirklich gerne anrufen", bekannte sie mit zittriger Stimme. Jeff Shiffrin verstarb vor zwei Jahren bei einem tragischen Unfall zu Hause. "Er würde mir wahrscheinlich sagen: Komm darüber hinweg, aber er ist nicht hier, um mir das zu sagen." Das mache alles noch viel schlimmer. Wie konnte er sie nur so im Stich lassen? "Ich bin ziemlich sauer auf ihn", sagte Shiffrin.

Verunsichert wie nie zuvor

Die Amerikanerin hätte einmal mehr der Star der Spiele werden sollen. Doch statt der Triumphe nun die sportliche Tragödie: Aus am siebten Tor im Riesenslalom, Fehler am vierten Tor im Slalom, den ausgerechnet ihre ewige Rivalin Petra Vlhova gewann. Aber wie kann das sein? Vielleicht war es doch der Druck? Der Druck, ihrer erfolgreichen Geschichte den nächsten Superlativ zu verpassen? Ein noch größerer Held zu werden? Die Historie des Sports hat immer wieder gezeigt, wie fatal eine solche Überlastung der Erwartungen enden kann, siehe etwa bei Tennisstar Naomi Osaka oder Turn-Legende Simone Biles im vergangenen Jahr. Und auch Shiffrin selbst kann davon berichten. 2014 war sie noch der befreit auffahrende Super-Teenie, 2018 der (gescheiterte) Topfavorit. Die Ausgangslage war daher in Peking anders, der Druck nun noch mal deutlich größer. "Da fragt man besser einen Psychologen", antwortete Shiffrin nun ausweichend auf eine entsprechende Frage. Ihre beiden besten Chancen auf einen Olympiasieg in China, sie sind vertan.

"Es fühlt sich an wie viel Arbeit für nichts." Und jetzt? Aufgeben? Nein. "Ich bin hier nur ein kleiner Tropfen in einem großen Eimer", sagte sie, "es fühlt sich an, als wäre es alles, aber das ist es nicht." Schon gar "nicht das Ende der Welt". Denn "so schwer es ist: Das ist nicht das Schlimmste, was ich je erlebt habe", bekannte sie und war damit wohl wieder ganz nah bei Papa Jeff: "Es ist nicht vergleichbar mit den schlimmsten Dingen."

Und es ist auch nicht das Ende der olympischen Wettbewerbe. Bereits am Freitag hat sie im Super-G die nächste von noch bis zu vier Chancen, dieses Mal ist sie nicht Top-, sondern nur Mitfavoritin. Doch die oft Außerirdische auf Skiern, die die Grenzen in ihrem Sport mit ihrer Kraft, ihrem Gefühl, ihrer Technik und Überzeugung so oft verschoben hat, sie ist plötzlich verunsichert. "Ich habe das Gefühl, dass ich vieles infrage stellen muss."

ntv.de

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