Man konnte dem jungen Mann vor dem ARD-Mikrofon regelrecht ansehen, wie sehr ihn die just erlittene Niederlage im letzten WM-Hauptrundenspiel schmerzte. "Es ist ganz klar, dass wir nicht unser bestes Spiel machen", sagte Juri Knorr nach dem knappen 26:28 gegen Norwegen. "Natürlich leben wir heute mit der Niederlage besser als in zwei Tagen. Ich glaube trotzdem, dass uns das alle ziemlich nervt", sagte der 22-jährige Spielmacher der Deutschen Handball Nationalmannschaft. Um dann aber gleich den Blick nach vorn zu richten: "Ich bin mir sicher, dass wir am Mittwoch mit einem anderen Gesicht auftreten."
Es war das erste Mal, dass die Auswahl des Deutschen Handball Bundes (DHB) bei Weltmeisterschaft in Polen und Schweden als Verlierer von der Platte gegangen ist. Zuvor war sie mit fünf Siegen in fünf Spielen durch die WM gestürmt und hatte sich in die Herzen der deutschen Handball-Fans gespielt. Am Montag saßen fast 7 Millionen Zuschauer vor dem Fernseher und fieberten mit der deutschen Sieben um Spielmacher Juri Knorr, Kapitän Johannes Golla und Torhüter Andreas Wolff mit. Heute, am Mittwochabend im Viertelfinale gegen Frankreich, könnten es womöglich zehn Millionen sein.
Das Spiel gegen Norwegen war als Gradmesser für die tatsächliche Qualität der deutschen Mannschaft eingestuft worden. Die Truppe um Topstar Sander Sagosen war das erste Weltklasse-Team, auf das die DHB-Auswahl bei diesem Turnier traf. Die Frage stand im Raum: Wie gut ist junge deutsche Mannschaft wirklich?
Die Antwort lautete: an diesem Abend nicht gut genug. Zum einen, weil– mit Ausnahme von Knorr und Torhüter Andreas Wolff – kaum ein Deutscher an seinem Leistungs-Limit spielte. Und zum anderen, weil Norwegens Torhüter Torbjörn Bergerud mit seinen Paraden in der zweiten Halbzeit zu einem Monster zwischen den Pfosten mutierte.
"Von diesem Spiel haben wir geträumt"
Die Frage ist nun, wie sehr der Dämpfer gegen Norwegen die junge Mannschaft um Trainer Alfred Gislason aus dem Rhythmus bringt. Denn ehrlicherweise muss man konstatieren, dass es der Turnierplan mit den Deutschen gut gemeint hatte und womöglich auch ein klein wenig für jenen Flow verantwortlich war, in den sich die Truppe um Kapitän Johannes Golla hineingespielt hat. Andererseits spürte man in jedem Spiel, das Herz und die Leidenschaft, mit der die Deutschen agierten. Durchaus ein Pfund gegen den sechsfachen Weltmeister und aktuellen Olympiasieger Frankreich. "Von diesem Spiel haben wir geträumt", sagte Juri Knorr vor dem Abflug nach Danzig, wo am heutigen Mittwoch das Viertelfinale steigt (20.30 Uhr/ZDF). "Es hört sich vielleicht martialisch an, aber wir müssen um unser Leben spielen, denn natürlich wollen wir weiterkommen."
Frankreich als Kontrahenten hätte sich der Bundestrainer gerne erspart. "Das ist aus meiner Sicht der schwerstmögliche Gegner. Die sind super besetzt, gerade in der Breite überragend besetzt", sagte Gislason nach dem Norwegen-Spielt. "Ich hätte lieber das Spiel heute gewonnen und gegen Spanien gespielt."
Doch trotz seiner ernsten Miene, mit der Gislason die Niederlage analysierte ("unser schwächstes Spiel", "Abwehr anfangs zu durchlässig", "verwerfen zu viele freie Bälle"), kann man dem 63-jährigen in den Tagen von Kattowitz in jeder Sekunde ansehen, wie viel Freude ihm sein Amt gerade macht. Für den knorrigen Isländer ist es das dritte große Turnier als Bundestrainer – allerdings das erste, wo es wirklich nur um Handball geht. Zuvor, bei der WM in Ägypten und der EM in der Slowakei und Ungarn wütete die Corona-Pandemie und sorgte gerade im deutschen Team für absurd hohe Ausfallzahlen.
Gislason hat das Amt des Bundestrainers mit einem Ruf wie Donnerhall übernommen. Für den DHB war es geradezu ein Segen, nach der Phase mit dem glücklosen Christian Prokop einen mutmaßlichen Erfolgsgaranten präsentieren zu können. Im Vereinshandball hat Gislason als Spieler und Trainer so ziemlich alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt, er wurde mehrfacher Deutscher Meister und gewann gleich mit zwei Vereinen (Magdeburg und Kiel) die Champions-League. Ehrgeizig. Erfolgshungrig. Klar in der Ansprache sind Attribute, die Gislason als Trainer ausmachen. Und ihn in seinen Anfangsjahren als Trainer einen Tick zu autoritär erschienen ließen.
Vom Schleifer zum Kommunikator
"So eine Auszeit wie gegen Argentinien hätte es am Anfang seiner Trainerkarriere definitiv nicht gegeben", sagt Adrian Wagner. Der ehemalige Handballprofi (Kiel, Dormagen, Bad Schwartau) kennt Gislason aus seiner Zeit beim VfL Gummersbach. "Er ist schon ein kerniger Typ. Grantig. Grummelig. Aber auch ehrlich und offen", beschreibt Wagner den Führungsstil des ehemaligen Schleifers, der sich längst zum Kommunikator gewandelt hat und auch mal Leine lässt. Wie etwa bei der Gala gegen Argentinien, als Gislason seiner Mannschaft angesichts ihrer tadellosen Leistung nur schulterzuckend zugerufen hat: "Spielt doch was ihr wollt!"
Sichtbar wird die unbändige Freude, die Gislason gerade mit seinen Jungs hat, auch beim Coaching am Spielfeldrand, wo er bei jeder Aktion seines Teams mitgeht, sich mitunter wie ein Baum im Wind biegt. Oder im Kontakt gerade zu jungen Spielern wie Knorr oder Julian Köster, denen er bei der persönlichen Ansprache schon mal den Arm um die Schultern legt. Wie ein Vater, der sich um seine Kinder sorgt.
"Wie der Handball, hat sich auch Alfred weiterentwickelt", sagt Wagner. Die Akribie, der Hunger nach Erfolg ist immer noch da, etwa, wenn sich Gislason vor jedem Spiel zurückzieht, um sein Team mit Video-Sequenzen auf den nächsten Gegner einzustellen. "Jede Mannschaft hat ihre Auftakthandlungen im Angriff, die sich auch wiederholen. Dabei gibt es immer auch Spielertypen, die etwas Besonderes machen", so Wagner. "Es geht bei solchen Sitzungen darum, der Mannschaft, ein Sicherheitsgefühl im Kopf zu schaffen." Und wenn da vorne so ein Urgestein steht, der schon alle Schlachten geschlagen hat ( "Alfred war halt schon dabei, als im Handball noch Nasen gebrochen wurden"), hört man als 22-Jähriger vielleicht noch mal eine Ecke aufmerksamer zu.
Die anderen Helden – Athleten, die den olympischen Traum lebten
Wohin der gemeinsame Weg von Gislason und seinen jungen Wilden aktuell führt, entscheidet sich heute Abend im ersten K.o-Spiel gegen Frankreich. "Wenn wir eine stabile Abwehr hinbekommen mit Andi Wolff als Rückhalt und unsere Chancen besser nutzen, dann können wir jeden Gegner schlagen", befand Kapitän Johannes Golla. "Und vielleicht unterschätzen sie uns auch ein bisschen", hofft Kreisläufer Jannik Kohlbacher.
Wenn's gut läuft, dann erleben die Fans vielleicht wieder eines dieser Dramen, die diesen Sport so einzigartig machen: "20:20 und noch zwei Minuten zu spielen, das ist so heftig, diese Nervenbelastung. Es kann sich niemand vorstellen, was dann in den Köpfen der Spieler vorgeht", sagt Ex-Profi Wagner, der zugibt, in diesen Momenten noch selbst vor dem Fernseher schweißnasse Hände zu bekommen.
Es wäre schön, wenn Wagner und die Millionen Handball-Fans, die ab 20.30 im ZDF mitfiebern, heute Abend jede Menge Handtücher brauchen.