"Jeder schreibt seine eigene Geschichte", sagt Jule Niemeier. Die 23-Jährige ist gerade in die dritte Runde der US Open eingezogen. Damit ist die einzige deutsche Spielerin, die noch im Turnier ist. Und sie ist überhaupt die einzige deutsche Vertreterin, denn auch bei den Männern sind alle Deutschen raus. Chancenlos. Niemeier ist trotzdem die große Unbekannte, ihre Popularität im eigenen Land dürfte sich in Grenzen halten.
Im internationalen Tenniszirkus ist sie bislang nur eine kleine Nummer. Bei den US Open dreht sich sowieso alles um den Abschied von Serena Williams, die Ikone des Frauentennis. Darüber klagen will Deutschlands einzige verbliebene Turnier-Hoffnung nicht. "Es ist legitim, dass sie im Moment mehr Aufmerksamkeit bekommt als alle anderen. Das ist keine Schande", sagte Niemeier.
Erfolg in Wimbledon kein Zufall
Dennoch: Niemeiers Story in New York ist erzählenswert: Die 23-Jährige beweist auf eindrucksvolle Weise, dass ihr überraschender Viertelfinal-Einzug in Wimbledon vor zwei Monaten kein Zufall war. Dass sie womöglich irgendwann in die Fußstapfen von Angelique Kerber treten kann, die aktuell wegen ihrer Schwangerschaft fehlt und die schon drei Grand-Slam-Turniere gewinnen konnte. Da mit Alexander Zverev der größte deutsche Star verletzungsbedingt ebenfalls nicht angetreten ist, blicken zumindest die Deutschen auf Niemeier.
"Ich mache mir noch keine großen Gedanken über einen Grand-Slam-Sieg", sagte die Niemeier betont gelassen. Sie wolle "jedes Match genießen, alles aufsaugen und mitnehmen". Auch im Drittrunden-Duell gegen die 19-jährige Chinesin Zheng Qinwen am Samstag. "Das ist eine sehr gute Spielerin, sie hat eine extrem harte Vorhand und kann sehr schnell spielen", sagte die Dortmunderin, die Nummer 108 der Welt, vor dem dritten Duell der beiden.
Sie müsse sich "sehr gut auf den Beinen bewegen", um die in der Weltrangliste um 69 Ränge besser platzierte Chinesin ärgern zu können. Bei ihren beiden Siegen gegen die Kasachin Julia Putinzewa (6:4, 6:3) und die frühere Australian-Open-Gewinnerin Sofia Kenin aus den USA (7:6, 6:4) hat das herausragend geklappt.
Jule Niemeier braucht Nervensträrke
Und Niemeier braucht wieder Nervenstärke. Gegen Putinzewa, die mit einigen Mätzchen provozieren wollte, blieb der Youngster erstaunlich ruhig. "Ich wusste, dass sie auf dem Platz sehr giftig sein kann", sagte Niemeier: "Sie hat zwei-, dreimal den Schläger geworfen, aber das hat mich nicht wirklich beschäftigt." Im Spiel falle es ihr deutlich leichter als im Training, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – "das ist, glaube ich, nicht so schlecht".
Für den Matchplan ist wieder Christopher Kas zuständig. Der Trainer betreut Niemeier seit fünf Monaten, davor hatte er schon Sabine Lisicki und Mona Barthel zu Erfolgen geführt. Der frühere Doppel-Spezialist glaubt, dass Niemeier erst in anderthalb Jahren anfangen wird, "ihr bestes Tennis zu spielen". Bis dahin müsse sie körperlich noch etwas fitter werden, meinte Bundestrainerin Barbara Rittner: Bei zwei, drei Kilogramm weniger Gewicht wäre die dynamische Rechtshänderin "wendiger und beweglicher".
Kas hat Niemeier nicht nur spieltaktisch auf ein neues Niveau gehoben. Der ehemalige Profi tut ihr auch emotional gut. "Er ist extrem positiv, hat immer gute Laune", erzählte die Athletin. Niemeier selbst ist eher introvertiert. Laut, wild, unruhig – so ist New York, so ist insbesondere die Tennis-Anlage im Flushing-Meadows-Park. Aber so ist Jule Niemeier nicht. Deswegen hält sie sich von dem ganzen Trubel fern und versucht, "schnellstmöglich von der Anlage zu kommen" und "Ruhe in den Alltag reinzubekommen".
Serena Williams ist da komplett anders. Die 40-Jährige, die in der Nacht zu Freitag mit ihrer Schwester Venus im Doppel ausschied, genießt die große Aufmerksamkeit bei ihrem Abschiedsturnier. Niemeier gönnt es der 23-maligen Grand-Slam-Turniersiegerin, denn: "Das heißt nicht, dass die anderen Spielerinnen schlechter sind oder nicht so wertgeschätzt werden wie sie."