Der "Walk-on-Court", der Gang der Tennis-Profis durch die Katakomben hinaus auf den Platz, wird bei den großen Turnieren wie ein eigenes Ereignis zelebriert. Kameras begleiten jeden Schritt. Die Zuschauer an den Bildschirmen sollen möglichst dicht dabei sein, bevor es losgeht. Mitunter sind dabei interessante Dinge zu beobachten.
In Melbourne bei den Australian Open konnte man Naomi Osaka am Samstagabend Ortszeit kurz vor dem Finale dabei zusehen, wie sie schwer bepackt mit ihrer überdimensionalen Tennis-Tasche auf dem Rücken sehr langsam den Tunnel der Rod-Laver-Arena abschritt. Rechts und links von ihr standen große leuchtende Säulen mit den Namen aller bisherigen Siegerinnen und Sieger des Grand-Slam-Turniers. Osaka hatte in Melbourne schon 2019 gewonnen. Die Japanerin würde also gleich ihren eigenen Namen passieren. Als es soweit war, schnellte die linke Hand der 23-Jährigen heraus und sie berührte für eine Millisekunde die Säule.
Knapp anderthalb Stunden später hatte Osaka die Australian Open 2021 durch einen souveränen Zweisatzsieg gegen die Überraschungsfinalistin Jennifer Brady aus den USA gewonnen. "Ich wollte eine Verbindung zu meinem Erfolg von vor zwei Jahren herstellen", sagte sie hinterher zu der Szene im Tunnel. Unauflösbar mit dem Erfolg verbunden ist Osaka nun schon länger. Und dieser Zustand wird vermutlich noch lange andauern.
Die neue Chefin des Damen-Tennis
Zum vierten Mal hat Osaka jetzt ein Major-Turnier gewonnen. 2019, nach ihrem ersten Triumph Down Under, erreichte sie erstmals die Spitze der Damen-Weltrangliste. Auch weil sie weniger Turniere als andere spielt, rutschte sie im Ranking zwischenzeitlich etwas ab. Am Montag rückt sie von Rang 3 auf Platz 2 vor, Führende ist weiterhin die Australierin Ashley Barty. Anders als bei den Herren lässt die Reihenfolge der Damen-Weltrangliste aber keine Rückschlüsse auf den Star-Faktor der Spielerinnen zu. Serena Williams war über Jahrzehnte die alles überstrahlende Akteurin. Für Osaka ist sie das immer noch.
Nach ihrem Erfolg über Brady wurde sie gefragt, ob sich das Gesicht des Tennis nun endgültig zu ihren Gunsten verändern würde. "Nein, gar nicht", lautete Osakas kurze Antwort. Das war politisch korrekt. In Wahrheit hat die Japanerin spätestens nach ihrem Halbfinal-Erfolg über Williams bei den diesjährigen Australian Open die Regentschaft im Damen-Tennis übernommen. "Für mich hat das Frauen-Tennis eine neue Chefin", sagte die siebenfache Grand-Slam-Siegerin Justine Henin am Rande des Turniers von Melbourne. Man mag ihr nicht widersprechen.

Gegen Rassismus und Polizeigewalt
Osaka, die in der gleichnamigen japanischen Stadt geboren wurde, aber schon mit drei Jahren mit ihren Eltern in die USA auswanderte, ist nicht erst seit heute ein globaler Star - auch, weil sie abseits des Tennis-Platzes immer wieder für Aufmerksamkeit sorgt. Im vergangenen Jahr wurde sie nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd und nach den Polizei-Schüssen auf Jacob Blake zu einer Art Tennis-Aktivistin. Ihre Popularität und Reichweite nutzt sie, um Rassismus offen anzuprangern. Vor ihren Matches bei den US Open trug sie Masken mit Namen von Opfern von Polizeigewalt. Bei einem anderen Turnier drohte sie damit, ein Spiel zu boykottieren - und rief damit zusätzlich Beachtung für die institutionalisierte Gewalt gegen Schwarze in den USA hervor. "Wenn ich in einem mehrheitlich weißen Sport eine Diskussion in Gang bringen kann, betrachte ich das als einen Schritt in die richtige Richtung", sagte Osaka damals.
In ihrem Geburtsland sah und sieht man Osakas wachsendes Engagement für Themen abseits ihres Sports zumindest in Teilen der stark konservativ geprägten Gesellschaft kritisch. Sportler sollen sich auf ihren Sport konzentrieren, so denken immer noch viel. Dass Osakas Verhältnis zu ihrem Land ambivalent ist, liegt auch an ihrer Herkunft. Ihre Mutter ist Japanerin, ihr Vater ein dunkelhäutiger Haitianer. Die 23-Jährige versteht die Sprache, spricht sie aber nicht fließend. Die Fragen der japanischen Reporter beantwortete sie auch in Melbourne wieder ausschließlich auf Englisch. Wie japanisch ist also Osaka? Über diese Frage streiten sie sich in ihrer Heimat.
Osaka ist eine multi-kulturell geprägte junge Frau, die damit nichts anfangen kann: "Diese Denkweise langweilt mich, weil es nicht zeitgemäß ist", sagte sie einmal der New York Times. Viel lieber beschäftige sie sich mit Dingen, die ihr Freude machten. Vor kurzem hat sich Osaka bei einem amerikanischen Frauen-Fußball-Team eingekauft. Ihre Leidenschaft zur Mode spiegelte sich auch jetzt bei den Australian Open wider. Gemeinsam mit ihrem Sponsor entwarf sie ein ultra-stylisches Tennis-Outfit. Für ihre Fans ist die charismatische Osaka auch eine Stil-Ikone. In Japan bekam sie unlängst einen eigenen Manga-Charakter.
Natürlich ist Osaka mittlerweile auch die Geschäftsführerin einer millionenschweren und weiterhin bestens florierenden Ich-AG. Ihre Werbeverträge haben ihr 2020 37,4 Millionen Euro in die Kasse gespült. Laut Forbes ist sie damit die Topverdienerin ihres Sports. Das Time-Magazin hat sie im vergangenen Jahr in die Liste der 100 einflussreichsten Menschen aufgenommen. Trotz all dem wirkt sie auch in den Stunden ihrer größten Erfolge immer bescheiden, beinahe demütig. Vielleicht ist das, neben ihrem Tennis-Talent, ihr größtes Geschenk.
"Ich hoffe, ich kann so lange spielen, bis eine Gegnerin mal zu mir sagen wird, dass ich ihre Lieblingsspielerin gewesen sei. Das wäre wirklich das Coolste", sagte Osaka nach ihrem Sieg bei den Australian Open am späten Samstagabend. Dann ging sie vom Podium.