Ein Marathon bringt das Beste und das Schlechteste in einem hervor, es weckt die schönsten Hoffnungen und schürt die schlimmsten Ängste. Ein Marathon gleicht einer Achterbahnfahrt der Gefühle. Und am Ende weiß jeder ganz genau, was in ihm steckt.
Kirsten Behnemann, 38, rennt nach 5 Stunden und 12 Minuten im Central Park von New York durchs Ziel, was eine kleine Sensation ist - zur Startlinie auf Staten Island war sie am frühen Morgen noch gehumpelt. Das rechte Knie ist seit zwei Tagen dick. Am Abend vorher hat sie noch geweint. Sie sollte nicht starten, sie würde sonst riskieren, von Sanitätern nach fünf Kilometern aus dem Rennen genommen zu werden. Sie wollte daraufhin lieber sofort abreisen. Zurück zu ihrer Familie, zu ihrem Mann und den vier Kindern, die sie sowieso ganz schrecklich vermisst.
Behnemann entscheidet sich fürs Risiko
Doch sie entscheidet sich fürs Risiko, sie will für ihre Familie laufen, sie will ihr zeigen, dass auch sie etwas Großes leisten kann. Sie denkt während des Rennens an ihren Mann, an die Kinder. Das Knie spürt sie überhaupt nicht mehr. Im Ziel lächelt sie das erste Mal seit drei Tagen. Die Worte sprudeln aus ihr heraus: "Es war einfach nur geil. Ich musste viel gehen, aber die Leute haben mich ins Ziel getragen."
Zwei Millionen New Yorker stehen an der Strecke und helfen Kirsten Behnemann, ihren Schmerz zu überwinden. Ihre Angst vor der großen Stadt New York. Ihre Angst vor dem Alleinsein. Ihre Angst, zu Scheitern. Kirsten Behnemann ist eine von 39 000 Läufern, die beim diesjährigen New-York-Marathon angetreten sind. Und sie ist eine von fünf Läufern, die der stern und Asics nach fünfmonatigem Training an den Start gebracht haben. Jeder von ihnen hatte sein kleines Drama zu meistern, am Ende kamen alle fünf glücklich ins Ziel.
Ein scharfer Wind bläst durch die Straßenschluchten
Als der Bus mit den stern-Teilnehmern morgens um 5.45 Uhr vom Hotel abfährt, ist es noch dunkel und bitterkalt, Null Grad. Ein scharfer Wind bläst durch die Straßenschluchten von Manhattan. Über eine Stunde dauert die Fahrt raus zum Start nach Staten Island. Kirsten Behnemann, Gabi Lustig, Christa Bähre-Winzer, Tim Meinen und Manfred Gillenkirch sind nervös, es wird wenig gesprochen. Im Startbereich müssen sie bei der klirrenden Kälte mehr als drei Stunden ausharren. Die stern-Teilnehmer starten in der zweiten und dritten Welle, je nach angegebener Durchschnittszeit.
Betreut werden die stern-Läufer von Dieter Baumann, dem ehemaligen Olympia-Sieger über 5000 Meter. Manfred Gillenkirch, 47, ist am besten vorbereitet. Am Abend vor dem Rennen hatte er Baumann eine Zeit um 3:45 Stunden angekündigt. Eine Spitzenzeit für einen, der seinen ersten Marathon bestreitet. Gillenkirchs Frau Manuela denkt, dass er wahrscheinlich noch schneller sein wird. "Er hat mehr trainiert als geplant", erzählt sie. Manuela hofft, dass der Ehrgeiz ihn nicht dazu verleitet, das Rennen zu schnell anzugehen. Doch Gillenkirch ist einer von denen, die wissen, was sie tun. Bei Kilometer 20 weiß er, dass er es schaffen wird, er hat das Rennen und seinen Ehrgeiz unter Kontrolle. Danach fängt er an, den Lauf zu genießen, er lässt sich von der Freude der tanzenden Menschen in den Straßen von Queens und von den über 120 Livebands in Harlem mitreißen, er genießt es. Und braucht sogar drei Minuten länger als geplant: 3:48 Stunden.
Gabi Lustig rennt für ihren toten Mann
Gabi Lustig, 37, läuft für ihren Mann, der vor zwei Jahren beim Joggen im Wald tot zusammengebrochen ist. "Ich will dem Jörg nahe sein", sagt sie. "Das Laufen ist so etwas wie eine Therapie für mich." Als sie durch die Straßen von Manhattan und Brooklyn rennt, hört sie die Menschen immer "Gabi, Gabi" brüllen. "Das kann ja gar nicht sein, habe ich gedacht", erzählt sie später. Nach 4:31 Stunden läuft sie über den roten Teppich in den Central Park ein. New York feiert seine Läufer, und Gabi feiert mit. Dieses Rennen ist für sie nicht nur Therapie gewesen, es hat auch ihr Ego gestärkt. Sie sagt "Vielleicht probiere ich als nächstes einen Triathlon." Tim Meiden, 24, ist der jüngste, aber der untrainierteste in der Gruppe. Wie fit er ist, weiß keiner genau. Dieter Baumann meint vor dem Rennen: "Wenn Tim überhaupt ins Ziel kommt, ist das schon ein großer Erfolg." Tim selbst glaubt an sich, und er glaubt auch, eine Zeit unter fünf Stunden zu laufen. Er braucht 5:14 Stunden. Irgendwie hat er es geschafft. Wie, weiß er selbst nicht so genau. "Ich bin einfach nur froh, dass es gut ausgegangen ist", sagt er. Am Morgen nach dem Rennen steigt er zur Belohnung noch mal aufs Rockefeller Center und schaut sich von oben die Stadt an, in die er sich verliebt hat.
Trotz Brustkrebs läuft Christa Bähre-Winzer über die gesamte Distanz
Am schwersten schien es für Christa, 55. Sie ist an Brustkrebs erkrankt, sie muss Medikamente nehmen. Deswegen hat ihr der Arzt verboten durchzulaufen. Sie soll bei Kilometer 10 aussteigen, die nächste U-Bahn nehmen und die Gruppe dann beim Finish treffen. Das ist der Plan, es fällt ihr schwer, doch vor dem Start verspricht sie, sich daran zu halten. Bis Kilometer 10 kämpft sie mit ihrem Gewissen und entscheidet dann: "Ich übernehme die Verantwortung für mich. Wenn ich's heute nicht tue, tue ich es nie wieder." Sie hält ihren Puls weiterhin bei konstanten 148 Schlägen, wie der Arzt ihr eingeschärft hat, und auf einmal ist alles ganz leicht. Sie läuft nicht mehr, sie tanzt sich ins Ziel. Im Rhythmus der Sambagruppen, angefeuert von den starken, lauten Feuerwehrmännern. 5:05 Stunden braucht sie. Christa sagt später: "Mein Körper war mit einem Mal kein Thema mehr. Ich wusste: Das ist mein Tag." Es war nicht nur Christas Tag, es war der Tag aller stern-Läufer.