Es ist ein langer Weg bis zum Olymp, und vor der ersten Tür steht ein großer, schlanker Mann mit roten Haaren und einem Funkgerät in der rechten Hand. Der rote Riese macht zögerlich die Tür auf und dann noch eine und noch eine. Dahinter ist noch nicht Gianna Angelopoulos, aber schon ihr Duft.
Eine Frau im weißen Hosenanzug kommt herein. Griechische Frauen neigen dazu, sich stark zu schminken, sie dagegen hat nur ein leichtes Make-up aufgetragen. So, als wolle sie damit auch das Bild des Landes verändern. Gianna Angelopoulos ist ja das Gesicht der Olympischen Spiele, und dieses Gesicht soll das neue, moderne, zielstrebige Griechenland zeigen.
Es gibt viele Geschichten über Angelopoulos, an die man denkt, während man mit ihr spricht. Auf dem Olymp herrsche eine eiserne Lady, heißt es in einer Mischung aus Bewunderung und Furcht. Dabei wirkt sie gar nicht eisern, eher unnahbar, unangreifbar. Als umhülle sie ein gläserner Panzer. Muss sich jemand wie sie vermutlich auch zulegen. Die Griechen stehen ja unter Generalverdacht. Im Ausland und zu Hause. Sie kriegen die Spiele nicht hin. Liegen hoffnungslos hinter dem Zeitplan zurück. Von 33 olympischen Projekten sind gerade mal zwei fertig.
Was den Griechen in den verbleibenden elf Monaten abverlangt wird, ähnelt einem Marathonlauf im Sprinttempo. Das schreckt Gianna Angelopoulos nicht ab. "Seien Sie versichert", sagt sie und legt einem ihre Hand auf den Arm, "wir werden rechtzeitig fertig." Bill Clinton, der Menschenfänger, hat das auch so gemacht. Angelopoulos wird von amerikanischen Imageprofis gecoacht.
Als Kind half Gianna ihrem Vater, einem Bauern, beim Pflücken der Zitrusfrüchte auf Kreta. Nun ist sie Mitte 40 und Anwältin, verheiratet mit einem Reeder und Stahl-Magnaten, spricht fünf Sprachen, wohnt in einem 35 Millionen Euro teuren Schloss im Londoner Stadtteil Chelsea, legt während der Flüge nach Athen den Erziehungsplan für ihre drei Kinder fest, saß schon für die konservative Partei "Nea Dimokratia" im Parlament und holte die Spiele nach Athen. Mit ihrem stählernen Charme becircte sie das Internationale Olympische Komitee (IOC) und vor allem dessen greisen Präsidenten Juan Antonio Samaranch.
Olympia zu organisieren in diesem Land gleicht einem Dekathlon, dem Zehnkampf. Die Disziplinen sind beeindruckend: politischen Filz entflechten, die Interessen von Archäologen, Tier- und Umweltschützern berücksichtigen und trotzdem vorankommen. Es gibt zu wenige Hotelzimmer. Das Transportsystem kollabiert schon im Alltag. Eine neue Straßenbahn soll das Zentrum mit dem Sportkomplex Faliro an der Küste verbinden - hier liegt man vier Monate im Rückstand. Trotzdem ziehen die Macher hartnäckig auf den von ihnen herausgegebenen Plänen den roten Strich bis Faliro durch. Glaube soll hier Gleise setzen. Das Lebensprinzip der Griechen lautet eh, erst alles in letzter Minute erledigen zu wollen.
Und sie sind stolz, es meistens auch zu können.
Etwa 300 Großbaustellen gibt es derzeit, riesige Kräne ragen in den Himmel, in den Straßen tauchen plötzlich Krater auf, in denen Fahrer samt Autos verschwinden. Wegen der vielen Arbeiten kriechen die Ratten aus den Kanälen. Chaos nannten die alten Griechen die brodelnde Ursuppe, aus der die Götter die geordnete Welt erschufen. Chaos kann heute auch Athen heißen. Streitereien um jede Kleinigkeit lähmen die Arbeiten an den Olympia-Projekten. Alle regen sich immer und sofort mächtig auf. Schließlich sind wir hier in Griechenland. Hier wurde das Drama erschaffen. Wahrlich, keine leichte Aufgabe, Frau Herkules. Angelopoulos lacht. Die Liste der Probleme ist lang, ihre Antwort kurz. "Wir arbeiten sehr hart dafür, dass es einzigartige Spiele werden", sagt sie. "Es ist eine historische Chance, der Welt zu zeigen, was wir können. Das ist eine Frage der Ehre für uns."
Die Olympischen Spiele kehren ja an ihre Geburtsstätte zurück
, und die Griechen wollen beweisen, dass es keinen schöneren Ort dafür gibt. Der Marathon wird auf der Originalstrecke gelaufen, er endet im wunderschönen Panathenaiko-Stadion, da wo die Spiele 1896 ihre moderne Uraufführung erlebten. Lance Armstrong und Jan Ullrich fahren auf einer Strecke unterhalb der Akropolis um den Sieg. "Sie sehen, es werden einzigartige Spiele sein", sagt sie und wiederholt zum Schluss: "Seien Sie versichert."
Weiter geht‘s zum Oaka, dem olympischen Sportkomplex, wo im kommenden Jahr das Herz der Spiele schlagen wird. Hier ist das Olympiastadion, die Schwimmhalle, die Tennisarena, die Basketballhalle. Wir schauen uns um und sind ratlos. Der eiserne Wille von Frau Angelopoulos ist ganz weit weg. Vielleicht gab es deshalb keine Genehmigung für den Besuch im Stadion. Aus Sicherheitsgründen, hieß es. Wir schleichen uns rein, problemlos. Nach einer halben Stunde kommt ein Mann auf uns zu. Er ist Albaner und der Vorarbeiter. Es ist Sonntag. Der Albaner sagt, seine Chefs, die Griechen, wollten keine Besucher auf dem Gelände. Aber heute habe er das Sagen. Wir dürften rein. Für zehn Euro.
Die erst 20 Jahre alte Schüssel sieht trist und brüchig aus
, alle Plastiksitze sind herausgerissen, sie liegen verstreut auf der blassrot schimmernden Tartanbahn. Der Rasen gleicht einer Steppe, die Torstangen hängen träge vor sich hin. Es sieht nach Abbruch aus. Es könnte auch das Nationalstadion von Bagdad sein. Die Stadionuhr steht. Sie zeigt eine Minute nach zwölf an.
Und diese unfassbar hässliche Arena wird nun für die Spiele umgebaut. Der spanische Stararchitekt Santiago Calatrava hat sich eine kühn geschwungene Dachkonstruktion ausgedacht, die diesem Beton-Monstrum ein luftig-leichtes Gewand verpassen soll. Der Entwurf aus Stahl und blauem Glas ist allerdings so kompliziert und aufwendig, dass die Athener riskieren, bei der Eröffnungsfeier mit halb fertigem Dach dazustehen.
Wenige Kilometer von Oaka entfernt findet sich das Hauptquartier der Organisatoren.
Immerhin, das steht. Ein moderner Bau mit viel Glas und noch mehr Holz. In einem kleinen Büro in der ersten Etage sitzt Jörg Schill. Er ist so etwas wie die Geheimwaffe von Frau Angelopoulos. Immer wenn die böse Welt da draußen nicht glauben mag, dass alles gut wird, bringt sie Schill ins Spiel. Schill ist für das IOC allein schon deshalb glaubhaft, weil er Deutscher ist und schon mal das Unmögliche in diesem Land möglich machte. Schill plante und beaufsichtigte die Bauarbeiten für den neuen Flughafen und war nahezu zehn Monate früher fertig als vorgesehen. Noch nie war zuvor ein Großprojekt zum vereinbarten Termin übergeben worden. Aber trotzdem konnte der Betrieb am Flughafen nicht aufgenommen werden - es fehlten die Zufahrtswege. Für die war Schill nicht zuständig.
Der 66 Jahre alte Freiburger berät nun Frau Angelopoulos. Auf seinem Tisch liegt der letzte Bericht des IOC, gespickt mit Strichmännchen seiner Chefin. "Das IOC bestätigt uns, dass wir unglaublich aufgeholt haben", sagt Schill. "Aber wir stehen bis zum letzten Tag unter Druck." Deshalb gibt es kaum Testläufe für Olympia. Und wenn, dann fallen sie gründlich ins Wasser. Wie vor fünf Wochen bei der Junioren-WM der Ruderer draußen auf der neuen Regattastrecke. Sturm und hohe Wellen ließen Boote untergehen. Weil vergessen wurde, Bäume zu pflanzen, die die Athleten vor den Meltemia, den sommerlichen Nordwinden in der Ägais, schützen. Einige Ruderer mussten ins Ziel schwimmen.
Es ist ein mühsamer Weg bis zu Titos Patrikios. Er wohnt in der obersten Etage eines Hochhauses, der Aufzug fährt so langsam hinauf, als würde er von Menschenhand gezogen. Patrikios steht auf der Terrasse und blickt auf seine Stadt. Auf eine endlose Betonwüste, auf einen großen Fels. Athen ist eine Großstadt, die ohne architektonischen Plan errichtet wurde. Dahingewürfelte Häuserblocks und Bürotürme wuchern die Hänge hinauf. Es gibt kaum Parks, das Weißbeige des Betons sticht einem ins Auge.
"Der Reiz von Athen liegt im Verborgenen, da, wo das eigentliche Leben spielt, in den dunklen Gassen und antiken Straßen", sagt Patrikios, der Dichter. "Ich bemerke seit einiger Zeit, wie das Verborgene sichtbarer wird. Ich sehe meine Stadt im Wandel, sie wird schöner. Und so merkwürdig das auch klingt, das verdanken wir den Spielen."
Geschichte lebt auf in dieser Stadt.
Patrikios glaubt, sie wieder einatmen zu können. Es wurden Fußgängerzonen geschaffen, Promenaden, die die bedeutendsten Zeugnisse Athens aus griechicher und römischer Zeit miteinander verbinden. Er bummelt jetzt vom Tempel des Olympisches Zeus mit seinen monumentalen 16 Säulen zum Stadttor des römischen Kaisers Hadrian. Von der Agora, dem Versammlungsplatz, auf dem einst der Schuster Sokrates philosophierte, hinauf zur Akropolis, und dann weiter zum Dionysos-Theater, der Geburtsstätte des antiken Dramas. Keine knatternden Mofas und keine stinkenden Autos stören ihn mehr bei seinen Streifzügen durch die Altstadt.
Patrikios, ein Philosoph im Land der Philosophen,
war Präsident der Kulturolympiade und gilt als einer der wichtigsten Poeten des Landes. Während des Gesprächs rezitiert er Gedichte, einheimische, dann den ersten Vers aus Goethes Zauberlehrling. Die Griechen würden nur noch selten Gedichte aufsagen, bedauert er mit einem langen Seufzer. Würden sich lieber am Spielrausch der Fußballer und Basketballer begeistern statt für Homer. Aber nur am Fernseher oder in den Arenen. Selbst Sport treiben? "Athen ist eine sportfeindliche Stadt." Patrikios spricht ruhig, und auch wenn er Kritisches sagt, klingt das wie eine Streicheleinheit.
Wer Athen im Sommer erlebt hat, wenn der Nefos, der Smog, an Tagen ohne Wind als graue, giftige Wolke auf der wie betäubt daliegenden Stadt lastet, kann die Trägheit der Athener nur zu gut verstehen.
Es ist ein Leichtes, zur Bürgermeisterin der Stadt Athen zu gelangen, was einen ziemlich irritiert, wenn man um die Geschichte dieser Frau weiß. Als Dora Bakoyannis 35 war und zwei kleine Kinder hatte, erschossen Terroristen auf offener Straße ihren Mann, den Politiker Pavlos Bakoyannis. Jetzt ist sie 49, seit knapp einem Jahr regiert sie Athen, und vor neun Monaten entging sie selbst nur knapp einem Attentat.
Sie trotzt der Gefahr. Wir haben uns bei ihrer Assistentin Helen telefonisch angemeldet, das reicht. Den Wachen müssen wir keinen Ausweis vorzeigen, werden nicht mal durchsucht und dürfen sofort die Treppen in den ersten Stock hochlaufen. Wie eine Walküre schreitet sie in ihrem weiten Gewand durch den riesigen Raum im Rathaus. Dora Bakoyannis ist für eine Griechin ungewöhnlich groß, 1,84 Meter. Sie spricht Deutsch mit bayerischem Akzent, sie hat in den 60ern in München gelebt und sagt zu ihren Gesprächspartnern oft: "Schauen Sie ?" Dora Bakoyannis hat eine ruhige, tiefe Stimme. Sie ist eine Frau, mit der man abends in der Taverne sitzen möchte. Sie kann erzählen, sie kann zuhören. Die Athener sprechen von ihr als "unsere Dora", als sei sie ein Mitglied der Familie.
Die eiserne Gianna und die herzerwärmende Dora: Olympia ist auch ein Duell dieser beiden Frauen. Das Vorspiel um die Macht im Land. Irgendwann wird eine von beiden die erste Ministerpräsidentin Griechenlands sein. Ganz sicher.
Noch ist Dora nur in Athen die Nummer eins. Als Bürgermeisterin verantwortet sie die Bauarbeiten, sie lässt die Stadt für die Spiele herausputzen. Die Fassaden der Häuser werden frisch gestrichen. Tausende Plakate, die auf Dächern und Wänden der Gebäude das Zentrum Athens wie eine große Werbetonne erschienen ließen, mussten verschwinden. Und dann gibt es nach fast 30 Jahren Planung endlich die neue Metrolinie. Bakoyannis schwärmt wie alle hier von diesem Prachtstück mit Bahnstationen aus Marmor, Granit und Stahl.
Bakoyannis will ein neues Image erschaffen für ihre Stadt, die Touristen nicht länger nur als Sprungbrett für ihren Inselurlaub ansehen sollen. "Es wäre übertrieben zu sagen, es gibt ein neues Athen. Aber die Stadt wird durch die Spiele wieder ihre ganze Schönheit zur Schau stellen", sagt sie und drückt die Zigarette aus. Sie beugt sich über den Schreibtisch. "Ich werde Athens Gästen in die Augen schauen und ihnen garantieren: Sie werden hier eine wunderbare Zeit verbringen."
Wir flanieren mit Patrikios durch die Stadt. Fast jede Straßenecke gibt einen prächtigen Blick auf die Akropolis frei. "Überirdisch, beleuchtet wie eine materielle Erinnerung an den Geist, der uns dazu bringt, uns klein und vereinzelt zu fühlen", flüstert Patrikios. "Und doch ist es zutiefst tröstlich, in ihrem Schatten zu leben."
Später sitzen wir bei ihm auf der Terrasse. Die Abendluft fühlt sich samtig an. Drinnen im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Auf dem Bildschirm erscheint Gianna Angelopoulos. Sie trägt dieses Mal einen grauen Hosenanzug. Neben ihr steht IOC-Prüfer Denis Oswald. Vor Monaten noch fetzten sich die beiden ganz fürchterlich. Denis, der Schreckliche, wie er in Athen genannt wurde, ist mittlerweile so zahm wie ein Reh.
Sie sprechen über die Junioren-WM der Ruderer, deren Präsident Oswald ist. Frau Angelopoulos legt freundschaftlich die Hand auf seinen Arm, Oswald küsst und herzt sie. Denis redet das Chaos klein, Gianna strahlt, und wir denken: Die Griechen werden es wieder hinkriegen. Natürlich auf ihre Art. Wie bei den Spielen 1896. Im Panathenaiko-Stadion waren bei der Eröffnung nur die unteren vier Zuschauerränge wie vorgesehen aus Marmor, der Rest aus Holz gezimmert und - damit es nicht auffiel - weiß gestrichen. Zehn Jahre später wurde der letzte Stein gesetzt.