Bald zehn Jahre ist es her, dass Sabine Lisicki im Dresdner TC Blau-Weiß bei den Deutschen Meisterschaften der Unter-Zwölfjährigen antrat. Viele ambitionierte Eltern waren mit ihrem Nachwuchs gekommen, erhofften sich für ihn eine große Karriere. Ihr Vater Richard war damals an ihrer Seite, der promovierte Sportwissenschaftler trainierte sie, seit sie sieben Jahre alt war. Sabine Lisicki spielte im Halbfinale, lag dort aber schon mit 3:5 im entscheidenden Satz zurück. Das passierte ihr oft, jedoch verlor sie solche Partien nur selten. Auch dieses Mal nicht, denn sie hasste nichts mehr, als zu verlieren. Lisicki kämpfte, sie drehte das Match und wurde gar Deutsche Meisterin. "Ich war von klein auf eine Kämpferin", sagt Lisicki heute, "dafür war ich schon immer bekannt."
Egal, was im Hause Lisicki in Berlin gespielt wurde, sie wollte immer nur gewinnen. Daran hat sich seither nichts geändert. Dass sie nun mit 21 Jahren in Wimbledon zum ersten Mal in einem Grand-Slam-Halbfinale steht, überrascht Sabine Lisicki daher gar nicht so sehr, wie man meinen sollte. Denn dass sie schon immer ganz nach oben wollte, hat sie nie verhehlt. Im Gegenteil. Als sie sich vor drei Jahren bei den Australian Open als Qualifikantin auf Anhieb in die dritte Runde spielte und Lisicki erstmals in den Fokus geriet, merkte sie sofort kess an: "Ich will die Nummer eins werden." Damals war sie die Nummer 194 der Welt, und ihr Vorpreschen klang zunächst ein wenig überheblich. Doch wer in der Akademie von Nick Bollettieri geschult wird, und dort in Florida trainierte Lisicki wochenweise mit ihrem Vater, der redet nun mal so. Denn die Philosophie des amerikanischen Trainer-Gurus ist so simpel wie erfolgreich: Man darf sich selbst nie limitieren. Nur, wer an das größte Ziel glaubt, wird es auch erreichen. Und nur, wer sich für den Besten hält, wird es eines Tages auch werden.
Auf den Erfolg fokussiert
Sabine Lisicki hat dieses Mantra tief verinnerlicht, sie glaubt bedingungslos an sich und kämpft genauso um jeden Ball. Dem Erfolg ordnet sie alles unter. Mit dieser Einstellung schien sie vor zwei Jahren bereits auf dem besten Wege, ihre Ziele im Eiltempo zu verwirklichen. In Charleston hatte sie ihren ersten Titel gewonnen, stand schon auf Platz 22 der Rangliste und stürmte auch noch bis ins Viertelfinale von Wimbledon, obwohl sie bis dahin noch nie ein Match auf Rasen gewonnen hatte. Und endlich schien da eine gekommen zu sein, die dem darbenden deutschen Tennis nach der Graf-Ärazu neuer Lebensenergie verhelfen könnte. Ihr attraktives Äußeres war dabei nicht von Nachteil.
Nichts schien Lisicki aufhalten zu können, doch dann verletzte sie sich schwer. Bei den US Open im selben Jahr knickte sie um, musste mit dem Rollstuhl vom Platz geschoben werden. Ihr Eifer trieb sie zu früh wieder zurück, in Indian Wells knickte sie im letzten Frühjahr erneut um. Eine Operation und sieben Wochen auf Krücken waren die Folge. "Das war der absolute Tiefpunkt", sagt Lisicki, "ich habe oft das Schicksal verflucht und mich gefragt: 'Warum passiert das ausgerechnet mir?'"
Wimbledon ist ihre Wohlfühloase
Fünf Monate fehlte sie auf der Tour, und dass sie in der Rangliste immer weiter abstürzte, verkraftete Lisicki nur schwer. "Ich musste bei null wieder anfangen", sagt sie. Dennoch habe sie nie daran gezweifelt, dass sie zurückkommen würde. Ihr Wille war ungebrochen. Er half ihr auch dabei, sich durch Qualifikationen und zweitklassige Challenger-Turniere zu quälen. Als Nummer 218 der Welt ist das Profileben meist mühsam, Komfort und Luxus existieren in diesen niederen Gefilden nicht. Manchmal nicht einmal Ballkinder. In den letzten Wochen zahlten sich ihre Ausdauer und die harte Arbeit endlich aus, sie reiste mit dem Turniersieg aus Birmingham an die Londoner Church Road. Dass sie im letzten Jahr dort nicht antreten konnte, "brach ihr das Herz", sagt sie.
Der All England Club hat es Lisicki angetan, das Flair der alten Traditionen wirkt wie eine Zeitreise und gibt dem Turnier seine besondere Aura. Die weiße Spielkleidung, die fehlenden Werbebanner und der nur zwei Wochen im Jahr bespielte Rasen prägen die einzigartige Atmosphäre. Auf dem ehrwürdigen Center Court scheint man Geschichte förmlich atmen zu können, für Lisicki ist es die reine Wohlfühloase. Sie liebt die große Bühne. Wenn ihr 15.000 Zuschauer stehend zujubeln, spielt sie am besten. Dann wehrt sie auch gegen die French-Open-Siegerin Li Na zwei Matchbälle ab, bezwingt sie gar. Der Weltranglistenneunten Marion Bartoli erging es im Viertelfinale nicht anders. Kaum jemand schlägt im Damentennis so kraftvoll auf wie Lisicki oder prügelt die Bälle härter über das Netz. Doch das allein ist nicht der Grund, warum sie es bis ins Halbfinale geschafft hat. "Ich war entschlossen, bis zum bitteren Ende zu kämpfen", erklärte sie, "ich wollte so unbedingt den Sieg." Und das war ja schon immer so.
Bereit für den ganz großen Coup
Doch Vergleiche mit früher hört Sabine Lisicki nicht mehr gerne. Sie betont lieber, wie sehr sie ihre Verletzungszeit geprägt und vor allem verändert habe. "Ich bin sehr viel ruhiger in den kritischen Momenten geworden", sagt sie, "und ich genieße jetzt jeden Augenblick auf dem Platz." Das habe sie lockerer, aber gleichzeitig stärker gemacht. Ihr sei einfach bewusst geworden, wie schnell alles vorbei sein kann.
Die Abgeklärtheit hatte Lisicki bisher gefehlt, so aber ist sie nun nur noch einen Schritt vom Endspiel in Wimbledon entfernt. Dass sie "nichts zu verlieren" hat gegen die wiedererstarkte Russin Maria Scharapowa, ist ein Vorteil für Lisicki. Aber egal, wie die Partie ausgehen mag, es scheint zumindest, als würde der ganz große Coup nicht mehr lange auf sich warten lassen.