Gina Lückenkemper flog am Ende über die Ziellinie. Erst auf den letzten Metern schloss die 25-jährige Sprinterin im Finale der 100 Meter zu den Konkurentinnen Mujinga Kambundji aus der Schweiz und der Britin Daryll Neita auf und warf den Oberkörper nach vorne. Das Zielfoto entschied. Ein Millimeter-Vorsprung reichte, um das Münchner Olympiastadion nach dem Goldmedaillen-Triumph des Zehnkämpfers Niklas Kaul erneut explodieren zu lassen. Mit 10,99 Sekunden nahezu zeitgleich, aber mit der Schulter hauchdünn vor der Schweizerin passierte Lückenkemper die Ziellinie an diesem berauschenden Abend für die deutsche Leichtathletik. In Zahlen ausgedrückt betrug Lückenkempers Vorsprung fünf Tausendstel.
Dass sie gleich nach dem Zieleinlauf ins Straucheln geriet und auf die Tartanbahn stürzte und eine Wunde am Oberschenkel mit acht Stichen genäht werden musste – es spielte keine Rolle mehr. Als Lückenkemper das Ergebnis auf der Anzeigetafel sah, brach es aus ihr heraus. Fassungslos riss sie die Augen auf und schlug die Hände vor das Gesicht, 40.000 Zuschauer sangen "Oh, wie ist das schön". Das spektakuläre 100-Meter-Finale der Frauen bildete den Abschluss eines Tages, an dem die deutschen Leichtathleten begeisterten. Niklas Kaul gewann Gold im Zehnkampf, die Diskuswerferinnen Kristin Pudenz und Claudine Vita holten Silber und Bronze. So einen Erfolg hatte es lange nicht gegeben.
European Championships: Frauen-Staffel sprintet zu Gold

Nur einen Monat nach der enttäuschenden WM in den USA setzte die Frauen-Staffel dann in 42,34 Sekunden den Schlusspunkt. Die Polinnen wurden in 42,61 Sekunden Zweite, Rang drei ging an Italien in 42,84 Sekunden.
"Ich hätte es nicht für möglich gehalten", sagte Lückenkemper, die nach dem Einzeltitel wegen einer Wunde am linken Knie genäht werden musste. "Wir haben alle gegeben und es hat sich am Ende ausgezahlt. Ich weiß auch gar nicht, was ich gerade sagen soll", fügte Startläuferin Alexandra Burghardt am Stadionmikrofon hinzu. Gar nicht dabei war die angeschlagene Tatjana Pinto, die vor einem Monat zum Quartett zählte, das überraschend WM-Bronze holte.
Erfolg auf verschlungenen Pfaden
"Das Stadion ist heute der absolute Wahnsinn. Ich bin Euch so unfassbar dankbar. Ich merke gerade gar nichts, ich habe so viel Adrenalin", rief Lückenkemper ins Mikrofon im Stadion, durch das die La Ola schwappte.
Dabei hatten Lückenkemper vor dem Finale Probleme geplagt. Zum Halbfinale war sie mit einem blauen Tape am hinteren linken Oberschenkel angetreten. Erst ihr Trainer habe sie von der Teilnahme am Endlauf überzeugt. Sportliche Erfolge kommen eben manchmal auf verschlungenen Pfaden zustande.
Dazu passt, dass Lückenkemper, die aus dem nordrhein-westfälischen Soest stammt, in der Vergangenheit immer wieder von Verletzungen zurückgeworfen wurde. Vor vier Jahren war sei bei der EM zu Silber gelaufen, aber der große Durchbruch ließ auf sich warten. An den Olympischen Spielen in Tokio nahm sie im vergangenen Jahr nur als Ersatzläuferin für die Sprint-Staffel teil, kam im Finale zwar zum Einsatz, aber es reichte nur zu einem fünften Platz. Bei der WM in den USA vor wenigen Wochen scheiterte sie im Halbfinale, holte aber mit der Staffel Bronze.
Sie wohnt in Florida
Jetzt also der größte Triumph ihrer Karriere. Lückenkemper hat endgültig bewiesen, dass sie in der Weltspitze mithält, auch wenn die jamaikanischen und us-amerikansichen Sprinterinnen noch einmal ein eigene Liga darstellen. Aber genau um diese Lücke zu schließen, wechselte Lückenkemper schon 2019 in die Trainingsgruppe (Pure Athletics Group) von US-Coach Lance Baumann. Er nahm sie auf, weil sie mit mehren Läufen unter elf Sekunden bewiesen hatte, dass sie es drauf hat.
Seitdem trainiert sie in Clermont in Florida, hat sich dort eine Wohnung genommen und sich stetig verbessert. Die Gruppe ist hochkarätig besetzt. Die amerikanische Sprint-Weltmeisterin und Olympiasiegerin Tori Bowie und die zweimalige Olympiasiegerin Shaunae Miller-Uibo von den Bahamas gehören unter anderem dazu. Baumann lässt weniger trainieren, dafür aber härter. Bekannt sind die Knock-out Days (K.o.-Tage), an denen die Läuferinnen Sprints in schneller Frequenz absolvieren. Es geht so weit, dass Lückenkempfer sich jedesmal übergeben müsste, wenn sie denn die Zeit dazu hätte, erzählte sie mal der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Eine gewisse Härte gegen sich selbst ist ihr genauso zu eigen wie ein großes Selbstbewusstsein. Als die deutschen Athletinnen und Athleten nach dem schlechten Abschneiden bei der WM in Eugene schwer in die Kritik gerieten, wehrte sich Lückenkemper vehement und prangerte gleichzeitig die Spitzensportförderung hier zu Lande an. Die deutschen Athleten müssten sich "den Arsch aufreißen müssen, um gegen diese Vollprofis antreten zu können". Die zweifache Olympiasiegerin Ulrike Nasse-Meyfahrt, mittlerweile 66 Jahre alt, kanzelte das als "populistischen Unfug" ab. Die Debatte wird definitiv weitergeführt werden. Als Europameisterin wird Lückenkempers Kritik mehr Gehör finden.
Jetzt hat Lückenkemper ein wenig Zeit, kurz durchzuschnaufen und ihre neue Rolle zu genießen. In dieser Zeit dürfte sie noch paar mehr Follower auf Instagram einsammeln, wo ihr bereits über 180.000 Menschen folgen. Am Sonntag folgt das nächste große Ziel. Da will die Athletin vom SCC Berlin mit der Staffel die nächste Medaille gewinnen.
Quellen: DPA, "Sportschau", Deutschlandfunk, "Frankfurter Allgemeine Zeitung", N-TV