Die Jungs vom österreichischen Fernsehen bestellen erst mal ein Bier. Ist immerhin schon Viertel nach elf hier im Trainingszentrum Obertauern, und sie warten schon lange. Warten auf Hermann Maier.
Sonderbar: Denn irgendwie ist er in Austria immer schon da, egal, wo man hinkommt. Oft genug begegnet er sich dabei sogar selbst. In der Empfangshalle seines Skiherstellers Atomic steht er in einer Ecke.
Ganz klein und in Bronze. Aber vor den Kassenhäuschen der Flachauer Bergbahnen haben sie ihm ein richtiges Denkmal gesetzt: riesig, übermenschlich. So is' recht.
REHA für Olympia
In Obertauern gibt's ihn nun leibhaftig, dort quält sich das weltweit beachtete Staatsunternehmen Hermi für Olympia. In der Rehabilitation, nachdem er Ende August auf seiner Harley mit dem Auto eines deutschen Rentners kollidierte. Auch noch ein Piefke!
Großes Medieninteresse
Alle, alle sind sie da: der ORF, Kamerateams von BBC, ESPN und eines aus Frankreich. Plötzlich muss alles ganz schnell gehen: Tür auf, Meute rein, Hermi auf'm Trimmrad filmen; nach zwei Minuten fliegen alle raus, Tür zu.
Sorry, sagt der Pressemann. Bitt' schön, wir wollen doch das Projekt nicht gefährden.
Elf Bewerber für zwei Plätze
Als gäbe es keine anderen Skirennläufer im Lande. Ein paar Tage vor dem Weltcupauftakt hatten in Sölden elf Fahrer das zweitwichtigste Rennen der Saison ausgetragen: die interne Qualifikation des ÖSV für den Riesenslalom-Weltcup.
Elf grimmige junge Männer, die in Deutschland allesamt die Größten wären, bewarben sich um zwei verbliebene Startplätze - die gesetzten sieben Kollegen gehören eh zur absoluten Weltspitze.
Und dass überhaupt noch zwei Plätze übrig waren, liegt auch daran, dass Maier vorerst nur sechs Stunden Trockentraining täglich macht. Muss man sich bei diesem gnadenlosen Konkurrenzkampf wundern, dass den keiner sonderlich vermisst?
Mittelpunkt der Berichterstattung
Hilft aber nichts. Denn der Maier ist immer gegenwärtig. Selbst ohne Denkmal. Auch in Sölden.
Weil ein olympischer Winter ohne den Außerirdischen aus der Flachau für die Österreicher schier undenkbar scheint, reden Fans und Presseleute über nichts anderes.
Stephan Eberharter, Maiers Dauerrivale und ebenfalls einer der besten Skifahrer der Welt, raunzt deshalb ziemlich genervt: »Wenn mich noch einmal ein österreichischer Journalist nach dem Hermann fragt, dann haue ich ihm eine.«
Ski als Sportart Nummer Eins
Die Bayern sagen über die Österreicher, dass diese entweder mit dem Tablett in der Hand zur Welt kommen oder mit Skiern unter den Füßen. Man muss diesen Schmerz verstehen, die Hysterie.
Nach Maiers Unfall unterbrachen die Rundfunksender ihr Programm, fehlte nur noch, dass sie Trauermärsche spielten. Es gibt eben nichts Wichtigeres als Skifahren, zumal in einem Land, das wegen seiner rechten Regierung international wenig gelitten ist und auch noch mit 0:5 in der Qualifikation zur Fußball-WM an der Türkei scheiterte.
Keine Schmerzmittel
Das kranke Bein Österreichs steckt in einem hellbraunen Stützstrumpf und tut weh. Hermann Maier kommt aus der Kardiologie gehumpelt und sagt, es gehe ihm nicht so gut.
Er sieht müde aus, weil ihm die Schmerzen nächtens den Schlaf rauben. »Das treibt einen zur Verzweiflung«, sagt er. Drei, vier Stunden liegt Maier manchmal wach im Bett, wälzt sich, quält sich, weil er keine schmerzstillenden Mittel mehr nehmen will.
Angst vor Abhängigkeit
Die könnten abhängig machen, befürchtet er, und weil sie Appetitzügler enthalten, würde er noch mehr Gewicht verlieren. Zehn Kilo hat er schon abgenommen.
Sie haben sogar mit Hypnose versucht, ihn zum Einschlafen zu bringen. Das hilft, ist aber aufwendig. Maier sagt: »Doa muast söbst mit fertig wer'n.«
Kämpfer und Einzelgänger
Selbst mit etwas fertig werden. Das ist Maiers Art. Dass ihn die Kollegen nicht besuchen. Egal. Er hatte nie viel mit denen zu tun. Ist immer ein Einzelgänger gewesen.
Weil er egozentrisch ist? Auch. Vor allem, weil er es gewöhnt war in seiner Karriere: aus dem Nachwuchskader geflogen, weil zu schmächtig; bei besseren Hobbyrennen den Anschluss gefunden; dann der Durchbruch als Vorläufer.
Später als erster Österreicher seit Karl Schranz den Gesamt-Weltcup gewonnen, Olympia, WM. Alles. Ohne fremde Hilfe. Wozu sollte er jetzt jemanden brauchen? Von Ärzten und Physiotherapeuten einmal abgesehen.
Wie Schumacher
Vielleicht muss man so ticken, wenn man außerordentlichen Erfolg will. Verbissen sein und ein mieser Verlierer, zurückgezogen auf sich selbst. Michael Schumacher ist ähnlich. Der hat den Autorennsport professionalisiert, Maier das Skifahren.
Und mit seiner spektakulären Art eine stilistische Revolution angezettelt. »Der Hermann ist eine Ausnahmeerscheinung«, sagt ÖSV-Cheftrainer Anton Giger, »der hat letzte Saison so viele Rennen gewonnen wie die übrigen Österreicher zusammen.«
Das ärgert die übrigen Österreicher auch. »Es nervt, dass der Hermann anderen den Erfolg nicht gönnt«, sagt Hans Knauß, der 1999 die legendäre Kitzbühel-Abfahrt gewonnen hat. »Dabei hat er Neid gar nicht nötig.«
Wunschösterreicher
Weil seine Landsleute ihn lieben wie keinen Sportler zuvor. Der Maierhermann ist so, wie sie selbst gern wären. Ein rustikaler Kerl, furchtlos und weltberühmt. Der Mann aus dem Märchen. Der ausgebrochen ist aus dem alpenländischen Lebenslauf: Maurer, Skilehrer, Schuhplattler.
Einer wie Arnold Schwarzenegger aus der Steiermark, nach dem in Graz sogar ein Fußballstadion benannt ist, über den sie Lieder singen: »Steier-Man san very good, very very good for Hollywood.«
»Lauft ois suppa«
In Österreich steigert sich Verehrung schnell ins Kultische. Deshalb gibt es Mittwoch für Mittwoch in Obertauern den Medientag, wo der ORF sich jede Woche besorgt nach dem Genesungsfortgang erkundigt.
»Lauft ois suppa«, sagt der Maier und guckt mit gequältem Lächeln unter der Schirmmütze seines Sponsors hervor. Vor allem der Herr Doktor, ein smarter Junge namens Johannes Zeibig, bemüht sich in dem Trubel um Differenzierung: »Aus medizinischer Sicht«, sagt er, »spricht nichts dagegen, dass der Hermann Weihnachten schon wieder Ski fährt. Aus sportmedizinischer Sicht kann ich nur sagen: abwarten.« Rennfahren auf blankem Eis, meint er damit, ist etwas anderes als einen Tiefschneehang runterzuwedeln.
Der Weg nach Olympia
Im Februar beginnen die Olympischen Spiele in Salt Lake City. Bis dahin wird Maier mindestens ein paar Weltcuprennen fahren müssen. Kondition aufbauen, Gewicht zulegen.
Ein Mann, der im Moment vor Schmerzen kaum längere Zeit still sitzen kann. Der soll sich durch die Qualifikation kämpfen? Bei Olympia gibt es keine neun Startplätze mehr für Österreich, sondern nur vier pro Nation. Da wird auch für Maier keine Ausnahme gemacht, egal welche Sponsoreninteressen daran hängen.
Skier für jedes Stadium
Dennoch lassen sie nichts unversucht: Spezialschuhe haben sie gebaut, weil die transplantierte Haut am Schienbein äußerst empfindlich ist. Atomic entwickelt Skier mit entsprechender Materialmischung für jedes einzelne Stadium seiner Rehabilitation im Schnee.
Mythos und Mensch zugleich
Aber am Ende wird sich Maier doch in einen so engen Schuh reinzwängen müssen, dass schon ein gesundes Bein schmerzt, auf Skiern stehen, die so bockhart sind, dass sie den kleinsten Fehler bestrafen.
Das weiß auch Maier, und wenn man sich in Ruhe mit ihm unterhält, dann wirkt er eher skeptisch, was ein Blitzcomeback betrifft. Er ist halt doch Mythos und Mensch zugleich.
»Vielleicht ist das alles vorbestimmt«
Freunde und langjährige Weggefährten sagen, Maier sei nachdenklicher geworden. Das war schon vor dem Unfall so, als er seinen traumhaften Aufstieg vom Handwerker zum Superstar einzuordnen versucht hat.
Seit diesem Unfall fragt er sich mehr denn je nach dem Sinn des Lebens. Hatte alles so kommen müssen? Die Kollision bei einem Überholversuch mit der Harley womöglich ein Zeichen? »Vielleicht ist das alles vorbestimmt«, sagt Maier.
Der Maurer und die Metaphysik: Glaubt er tatsächlich daran, dass es da eine unsichtbare Instanz gibt, die den Gang des Lebens reguliert? Da schaut der Hermann und zuckt mit den Schultern. »Z' irgendwoas wird's scho' guat sei.«
Von Markus Götting