Nicolas von Rupp ist der Surfer mit der Nummer eins im deutschen Team. Die deutsche Meisterschaft in der Nähe von Biarritz hat er souverän gewonnen. Die Meistertafeln, zwei riesige Holzbretter mit den Umrissen Deutschlands stehen noch etwas verloren auf der Eckbank in der Küche und warten auf ihren endgültigen Platz. Nico und seine Familie leben in Portugal, Portugiesisch ist seine Muttersprache. Nico geht in Lissabon auf die deutsche Schule, sein Vater ist Deutscher.
Schule und Leistungsport, das bedeutet für Nico in diesen Wochen Stress pur. Vier Abiturklausuren stehen auf dem Programm, dazu büffelt der 18jährige für die Führerscheinprüfung. Sein Vater fährt ihn hin und her, glücklich ist zurzeit keiner. Für Nicos Lehrer steht das Abitur im Vordergrund, auch Nico wäre froh, wenn er die Schule hinter sich gebracht hat. Doch das heißt Arbeit. Seine Mutter will ihn trotz der wichtigen Wettkämpfe für den Biologie Leistungskurs in die Schule schicken. Die Heats werden wegen des ungewissen Wetters öfter verschoben, sein Vater treibt ihn an, die Schule wartet nicht. Abends nach dem Wettkampf will Romeo und Julia für den Englischunterricht und eine weitere Klausur analysiert werden. Nico findet keinen Zugang zu der romantischen Liebesgeschichte. Geschichte, Warschauer Pakt und das Nachkriegsdeutschland, lief ganz gut, Deutsch und Bio kommen noch. Die Klausuren laufen gnadenlos parallel zur Weltmeisterschaft weiter. Am Freitag, dem fünften Wettbewerbstag ist es dann soweit: Nico fliegt aus dem Rennen. Sein Brett ist kaputt, ein Franzose hatte ihn in die Felsen manövriert. Nico ist nicht nur enttäuscht, er ist fix und fertig. Dazu kommt, dass sein langjähriger Sponsor ihn vor zwei Wochen fallen gelassen hat, weil er wegen der Schule zuwenige Wettbewerbe besucht hatte. Nico wächst in wohlhabenden Verhältnissen auf.
Auf der Terrasse mit Meerblick stapeln sich die Surfbretter, trocknen die Neoprenanzüge. Nicos Vater und der Gärtner stehen auf Stand by um Nico zum Strand und zu den Wettbewerben zu fahren. Trotz aller Privilegien hatte auch Nico seine Probleme, seinen Platz in der Welt zu finden. In der Schule war er unkonzentriert, seine Lehrer standen mit ihm auf Kriegsfuß. Erst das Surfen half, sich zu finden. Was für ein Arbeitspensum Nico neben Wettkampf zu bewältigen hat, steht später nie in den Biographien. Hier werden nur die Erfolge gelistet. Tage wie Diese, wo Nico mit kaputtem Brett und angeknackstem Selbstbewusstsein aus dem Wettbewerb flog, werden einfach ausgeblendet. Das einzige, was seinen Kopf von allen quälenden Gedanken befreit, ist das abendliche Surfen an seinem Strand, am Praia Grande. Das ist der Strand, wo er und seine Freunde die "Locals" sind, wo ihnen der Respekt gebührt, wo er Freude empfindet.
Mit Sport aus den Favelas
Für die Surfer ist der Wellengang mehr als nur Sport oder ein Beruf, es ist ihr Leben. Diese Faszination vereint die World Surfing Nation, die Gemeinschaft aller Surfer. Diese Faszination erklärt auch, warum Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten trotz Arbeit und Stress sich diesem Trendsport mit Leib und Seele verschreiben.
Joao P. lebt in Manguinhos, einem Armenviertel, einem Favela im Norden von Rio de Janeiro. Er teilt sich die Hütte mit drei Geschwistern, wer sein Vater ist, weiß weder er, noch seine Mutter ganz genau.
Der Chef der Favela ist ein Drogenhändler, er kontrolliert den Geldfluss und die Aktivitäten in den Wellblechgassen. Die wichtigsten Industrien mussten schließen, oder haben ihre Fabriken verlagert. Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten gibt es fast keine. Wenn es ein Fest gibt, ist es finanziert und organisiert von den Drogenbaronen. Sex und Drogen herrschen hier wie Brot und Spiele. Joaos Mutter hat versucht, ihren Sohn in einem Fußballverein unterzubringen, damit Joao andere Vorbilder bekommt als die Drogenhändler. Joao war ein schwieriges Kind. Er konnte sich nicht in die Mannschaft einpassen, war zu eigensinnig und zeigte kein geeignetes soziales Verhalten. Die Fußballmannschaft, Ziel und Zukunftsperspektive tausender brasilianischer Jugendlicher, war schlichtweg nicht sein Ding. Mit einem brasilianischen Sportprogramm wurde Joao zum Surfer und fand dabei zum ersten Mal zu sich selbst. Das Surfen half ihm, seine Aggressionen zu kanalisieren, seine Konzentration zu verbessern und ein Ziel vor Augen zu haben. Joao ist der Strasse entkommen und wird nicht zu ihr zurückkehren, er wird Surfer bleiben.
Entlang der brasilianischen Küste eröffneten und finanzieren die Städte und Gemeinden Surfschulen, wo die Kinder kostenlos unterrichtet werden und Bretter und Anzüge gestellt bekommen. Die einzige Vorraussetzung: Die Jugendlichen müssen regelmäßig zur Schule gehen. Von den Lehrern abgestempelte Papiere sichern den Kids den begehrten Surfunterricht und ein warmes Mittagessen. Ein Kreislauf der Bedingungen, der funktioniert. Joaos Mutter ist froh, dass sie einen Esser weniger am Tisch hat und motiviert ihren Sohn zusätzlich. Joao will surfen, will zeigen, was er drauf hat und geht deshalb er in die Schule. Noch muss das Brasilianische Team ohne ihn an den Start gehen, er konnte sich nicht für die Weltmeisterschaften qualifizieren, nächstes Jahr kann es, so hofft Joao, anders aussehen.
"Wer ist ein Surfer?"
Die Surfweltmeisterschaften in Portugal organisiert der Brasilianer Marcos Bucao. Marcos, ein charismatischer, durchtrainierter Mann mit grauen Haaren, ist ebenfalls Surfer. Die Surfschulprogramme in seinem Heimatland hält er für ausgesprochen wichtig. "Wie in allen Ländern wird der Sport in Brasilien vom Fußball dominiert. Surfen aber ist etwas vollkommen anderes, es geht in deine Seele und verändert dein Leben positiv. Die Kinder lernen in den Surfschulen nicht nur den Sport und sportliches Verhalten, sie übernehmen auch Verantwortung. Als "Locals" sind sie auch zuständig für den Umweltschutz an ihrem Strand". Auf der größten Surf Website Brasiliens, "Waves" hat Senhor Bucao die Frage veröffentlicht: "Wer ist ein Surfer?"
Annähernd tausend Antworten versammelten sich in der Bibel des Surfsportes. "Du bist ein Surfer, wenn du immer an Surfen denkst. Wenn du morgens um fünf Uhr aufstehst um vor der Arbeit die besten Wellen zu kriegen und nach der Arbeit wenigstens für 15 Minuten an den Strand gehst." So eine radikale Antwort aus Rio. Eine Antworterin will den Surfer registriert wissen und meint, er müsse unbedingt an Wettkämpfen teilnehmen, sonst sei er kein Surfer. Ebenfalls von einer Frau kam die weiblichere Einsicht: "Ein Surfer ist ein Surfer, wenn er einmal im Monat surft." "Echte Surfer sind nur, wer die Umwelt schützt" verkündet ein grüner Soulsurfer aus Recife. "Nicht die Mode sondern die Seele entscheidet", will ein anderer Surfer wissen. Auch Surfing Shakespeare beteiligte sich an der Frageaktion: "Surfen oder nicht surfen, das ist hier die Frage!" Nicolas von Rupp gab die Antwort ohne nachzudenken: "Du bist ein Surfer, wenn du das Surfen liebst!"