Herr M.*, 46, ist seit zehn Jahren als Vertriebsmitarbeiter tätig. Von Anfang an wurde er von allen als ein sehr leistungsorientierter und verlässlicher Mitarbeiter geschätzt. Seine Arbeitsergebnisse sind exzellent. Bei den Kolleg*innen ist Herr M. wegen seiner Hilfsbereitschaft beliebt. Niemand kann sich daran erinnern, dass er einmal "nein" zu einer Bitte gesagt hätte.
Im Laufe der letzten sechs Monate aber, begann Herr M. sich zu verändern. Er wurde zusehends unkonzentrierter, wirkte müde und häufig gereizt. Als Herr M. vor kurzem zwei Tage ausfiel, ohne sich ordentlich krankzumelden, sprach ihn seine Führungskraft darauf an. Herr M. räumte ein, dass es ihm nicht gut gehe. Er berichtet von innerer Unruhe, Herzrasen und Erschöpfung: Morgens komme er nicht hoch, abends kann er nicht einschlafen. Dazu kommt nächtliches Wachliegen mit stundenlangen Grübeleien über die Arbeit. Auch sei seine private Situation in letzter Zeit sehr belastend. Nach diesem Gespräch riet ihm seine Führungskraft, sich mal bei uns zu melden.

Zwei Tage später sitzt er mir nun gegenüber: Sichtlich nervös – er ist doch nicht psychisch krank … Außerdem hat er noch nie mit einer fremden Person über persönliche Themen gesprochen. Wo soll er bloß anfangen?! Doch dann sprudelt es nur so aus ihm heraus: Er sei der Buhmann für eine Neuerung in der Abteilung, für die er gar nicht die Verantwortung trage. Dazu das neue Projekt ohne ausreichend Zeit. Zudem ist auch noch seine Frau erkrankt und erwarte seine volle Aufmerksamkeit zu Hause – Zeit für sich: Fehlanzeige! Er muss sich kümmern und stark sein.
Die Symptome lassen einen Burnout vermuten. Burnout ist häufig anzutreffen bei hochengagierten Mitarbeitern, gerne in Kombination mit Schwierigkeiten, sich abzugrenzen. Herr M. gibt alles für andere – und sich dabei auf. Dem will ich in der Beratung auf den Grund gehen. Wichtig bei diesem Symptomkomplex: eine ärztliche Abklärung. Wenn seine körperlichen Symptome nicht medizinisch begründet sind, starten wir mit der Aufarbeitung der mentalen Stellschrauben.
Das große Thema Abgrenzung
Aus der Situationsbeschreibung lese ich heraus, dass es Herrn M. nicht möglich ist, für seine eigenen Bedürfnisse zu sorgen. Weder im Job noch privat. Unbewusst wartet er ab, dass andere hellseherisch seine Grenzen, Bedürfnisse und Wünsche erahnen. Dies mal so benannt, wird es auch Herrn M. klar: Er muss sich sichtbar machen! Dazu braucht er eine gesunde NEIN-Kompetenz, das große Thema Abgrenzung. Denn ein NEIN ist auch immer ein JA zu etwas anderem. Die Erkenntnis macht Herrn M. zunächst unruhig: Wie soll das gehen? Wenn er an sich denkt, werden die anderen ja nun mal nicht Hurra schreien … und sind bestimmt enttäuscht von ihm.
Die Angst vor Ärger mit anderen ist einer der Fallstricke schlechthin für eine stabile Abgrenzung. Also spreche ich diese Angst an: Ob die anderen denn sauer sein dürften? Oder ob sie Hurra schreien müssten? Nein, findet Herr M. Es sei eigentlich, so betrachtet, okay. Er könne sich ja erklären. Auch hier hake ich ein: Wie lange würde er denn reden: Bis der andere endlich nickt und sagt: "Ach so! Na klar! Du hast recht. Wie konnte ich so blöd sein und das nicht so sehen?" Hier wird deutlich, wie absurd dieses Unterfangen sein wird.
Ich arbeite also mit Herrn M. im Weiteren heraus, was er selbst dafür tun könne, um sich sichtbar zu machen.
Herr M. fühlt sich schon jetzt entlastet! Ihm ist klar geworden, dass die anderen nicht wissen können, wann es genug für ihn ist. Er will nun als Erstes mit seiner Führungskraft besprechen, wie seine Projekte anders verteilt werden können. Und seit langer Zeit freut er sich, seiner Frau zu berichten, was er erlebt hat. Er möchte sich auch ihr mehr zeigen, ihr erzählen, wie es ihm wirklich geht und mit ihr gemeinsam sein Bedürfnis nach mehr Ruhe und Ich-Zeit besprechen.
Auf der zu Beginn der Sitzung angelegten Befindlichkeitsskala ist er von einer 2 auf eine 8 gekommen – weiter als er dachte! Ich will noch wissen, wo er das fühlt? Vor allem in der Brust, sagt Herr M. Er fühle dort nun mehr Raum und könne freier atmen.
Wir verabreden, uns in einer Woche erneut zu einer Beratung zu treffen. Voraussichtlich wird sich seine Situation nach zwei bis drei weiteren Beratungen fast vollständig lösen. Gute Aussichten!
Hier meine Tipps für Sie:
- Achten Sie auf körperliche Signale wie Schlafstörungen, innere Unruhe, Herzrasen oder Herzstolpern.
- Achten Sie auf psychische Signale wie Gefühle der Überforderung, Freudlosigkeit und des sozialen Rückzugs.
- Machen Sie sich sichtbar, mit Hilfe einer klaren Abgrenzungs-Kompetenz: Benennen Sie Ihre Grenzen und Bedürfnisse.
- Und erwarten Sie keinen Applaus, immerhin ist Ihre Abgrenzung für das Gegenüber unbequem. Aber er wird es schon schaffen!
* Anonymisiertes Fallbeispiel aus der Beratungspraxis des Fürstenberg Instituts. Der Fall wurde mit dem Einverständnis des Betroffenen anonymisiert.