Wenn es mal wieder knirscht zwischen der EU und Russland, wie jetzt wegen des Urteils gegen Kremlkritiker Alexej Nawalny, wird reflexhaft der Baustopp von Nord Stream 2 gefordert. Die umstrittene Ostsee-Pipeline gilt gleichsam als direkter Draht in den Kreml oder eine Voodoo-Puppe, mit der man die Regierung in Moskau treffen kann, wo sie am empfindlichsten ist: an ihren Öl- und Gasgeschäften.
Die fast fertige Rohstoffleitung steht bei Sanktionsforderungen gegen Russland auch deswegen ganz oben auf der Liste, weil sie – außer von Deutschland und den beteiligten Unternehmen – rundum abgelehnt wird: Von Umwelt- und Klimaschützern sowieso, von den traditionellen Öl- und Gas-Transitländern wie Polen und der Ukraine, die Einnahmeausfälle befürchten. Von den USA, die gerne ihr gefracktes Öl und Gas nach Deutschland exportieren würden. Und von fast allen ist zu hören, Nord Stream 2 würde das autoritäre Regime in Moskau unterstützten und zu stark von ihm abhängig machen.
Seit 50 Jahren strömt das Gas aus Russland
Diese Bedenken sind nicht neu, schon Anfang der 80er Jahre hatte sie etwa der damalige US-Präsident Ronald Reagan. Denn selbst in den eisigsten Zeiten des Kalten Krieges unterhielten Deutschland und andere US-Verbündete einen florierenden Rohstoffhandel mit der Sowjetunion. Seit fast 50 Jahren fließt stetig Öl von Osten in den Westen und die Petrodollars zurück.
Die besondere deutsch-russische Rohstofffreundschaft kam Anfang der 1970er in Fahrt, doch schon 15 Jahre zuvor hatte der Krupp-Konzern versucht, der Sowjetunion Pipelines für Erdgas zu verkaufen. Das Geschäft scheiterte an einem 1962 von den USA durchgesetzten Nato-Embargo. 1970 dann vereinbarte die Essener Ruhrgas AG einen Deal über jährlich drei Milliarden Kubikmeter Erdgas mit Moskau. Den Auftrag für die benötigten 2000 Kilometer Röhren ging an die deutschen Stahlriesen Mannesmann und Thyssen. "Wandel durch Handel" war die Losung, auch wenn sie bis heute nie so aufgegangen ist, wie sich das der Westen erhofft hatte.
Etwas Abhängigkeit schadet nicht
Anders als heute hatte der damalige Kanzler Willy Brandt nichts gegen ein bisschen Abhängigkeit vom Klassenfeind, in seinem Konzept der Ostpolitik sollte sie Entgegenkommen und Vertrauen signalisieren. Ganz nebenbei hatte bereits Österreich, wenige Jahre zuvor damit begonnen, sich sowjetisches Gas per Pipeline direkt vor die Haustür liefern zu lassen. Später fanden sich auch in anderen Staaten des EU-Vorläufers Europäische Gemeinschaft interessierte Abnehmer, darunter Frankreich und Italien. 2019 bezog die EU 25 Prozent ihres Rohölbedarfs aus Russland.
Die Inbetriebnahme der Transgas-Pipeline 1973 war der Beginn einer mehr als fruchtbaren Geschäftsbeziehung. Keine zehn Jahre später, 1979, verdoppelte der damalige Regierungschef Helmut Schmidt die Gasbezüge aus Russland. 30 Prozent der deutschen Gesamtverbrauchs stammten nun vom Erzfeind. Für den Kanzler Bonner Republik war das kein Problem, auch wenn es nicht viel mehr werden sollte und wurde. Und schon damals beäugten die USA die Geschäfte kritisch und warnten vor einer zu großen Abhängigkeit von der Sowjetunion.
Um den nicht enden wollenden Hunger nach dem Rohstoff zu stillen, wurden in den folgenden Jahren weitere Gastrassen nach Deutschland gebaut: Jamal (2001) und Nord Stream I (2011), in all den Jahren war Russland der wichtigste Energielieferant der Bundesrepublik und das hat sich bis heute nicht geändert. Mehr als zwei Drittel der Energieträger müssen importiert werden. Rund 34 Prozent des Erdgases stammt dabei aktuell aus Russland. Etwa die gleiche Menge kommt aus Norwegen. Beim Erdöl beträgt der Anteil etwa 40 Prozent und ist damit in etwa genauso hoch bei der Steinkohle, dessen größter Lieferant ebenfalls Russland ist.
Finnland importiert alles Gas aus Russland
Auch wenn Deutschland in der EU der größte Einzelkunde Russlands ist, hängen eine Reihe von Nachbarländern deutlich mehr an der Zitze von Gazprom, Rosneft und Co.: Die baltischen Staaten etwa importieren 100 Prozent ihres Gases aus Russland, ebenso wie Finnland. In Bulgarien sind es 98 und in der Tschechischen Republik 88 Prozent. Davon abgesehen wird zumindest die deutsche Energiewirtschaft künftig eher weniger fossile Rohstoffe gebrauchen. So betrug der Anteil an erneuerbaren Energien zuletzt 17 Prozent. Tendenz steigend.
Quellen: Umweltbundesamt, "Handelsblatt", Destatis, Bundeswirtschaftsministerium, "Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Die Zeit", Statista, DPA, AFP