Kranke Boom-Wirtschaft "Das Klima in Russland hat sich total geändert"

  • von Christian Herrmann
Rubel-Scheine, die Währung in Russland
Die Löhne in Russland sind 2023 um acht Prozent gestiegen, die Arbeitslosigkeit auf ein historisches Tief von 2,9 Prozent gefallen
© Maksim Konstantinov / Picture Alliance
Landesweit gehen in Russland zuletzt Heizungsanlagen in die Knie, für viele Menschen werden selbst Eier zu teuer. Geht das Land in die Brüche? Moskau-Korrespondent Rainer Munz warnt vor voreiligen Schlüssen. Russland boomt – auf Kosten der eigenen Gesellschaft.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei ntv.de.

Russland geht den Bach runter. So lesen sich nicht nur deutsche Berichte, sondern auch amerikanische und sogar russische: Im vergangenen Sommer hatte die "Tankstelle der Welt" plötzlich keinen Kraftstoff mehr. Am Jahresende waren Eier knapp und teuer. Kurz nach Silvester gingen im bitterkalten russischen Winter die Heizungen in die Knie. Nach Angaben der "Moscow Times" waren mindestens 43 von insgesamt 85 russischen Regionen und Teilrepubliken in den vergangenen Wochen von Versorgungsausfällen betroffen. Hunderte, teilweise Tausende Russen waren ohne Heizung, Wasser, Strom oder Gas. Das hast du nun von deinem Krieg, möchte man Putin sagen: Du hast dein Land zugrunde gerichtet.

Doch ntv-Reporter Rainer Munz warnt vor voreiligen Schlüssen. Russland sei ein riesiges Land mit extremen Temperaturunterschieden, sechs Monaten Winter und Versorgungsnetzen, die in vielen Fällen noch aus Sowjetzeiten stammen, berichtet der Korrespondent im ntv-Podcast "Wieder was gelernt" aus Moskau. In den vergangenen Wochen hätten die Temperaturen teilweise bei minus 30, minus 40 und in einigen Regionen sogar bei minus 55 Grad gelegen – dass Heizungssysteme bei diesen Temperaturen ihren Geist aufgeben, wundere ihn nicht.

Ja, Russland hat Probleme, sagt Munz. Die Inflation liege bei mehr als sieben Prozent, es gebe ländliche Gebiete mit sehr simpler Infrastruktur. Aber das Land sei weit von leeren Tankstellen und Supermarktregalen oder gar wütenden Protesten auf der Straße entfernt – speziell in den großen Metropolen: "Moskau ist die Perle und das Schaufenster des Landes. Hier sorgt man immer dafür, dass alles funktioniert", sagt Munz. "Die Menschen, die hier sind, verdienen auch gut. Und wenn die Inflation steigt, geht man halt weniger essen."

Werte, von denen Deutschland nur träumen kann

Man darf sich keine falschen Hoffnungen machen, lautet die klare Botschaft. Denn die Wahrheit ist, trotz aller Weltuntergangsberichte und westlichen Sanktionen: Russland erlebt einen Wirtschaftsboom. Die russischen Löhne sind vergangenes Jahr um 8 Prozent gestiegen, die Arbeitslosigkeit auf ein historisches Tief von 2,9 Prozent gefallen. Präsident Wladimir Putin freute sich besonders über einen Zuwachs der Industrieproduktion: Das verarbeitende Gewerbe legte 2023 um 7,5 Prozent zu, vornehmlich in der Waffenherstellung.

Diesen Angaben kann man glauben, denn die russische Erholung ist kein Hirngespinst von Putin, sondern wird von der Ukraine bestätigt: Die angesehene Wirtschaftsschule Kyiv School of Economics, die die Daten regelmäßig auswertet, kam im Dezember zu dem Schluss, dass die russische Wirtschaft vergangenes Jahr im zweiten Quartal um 4,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr gewachsen ist, im dritten Quartal sogar um 5,5 Prozent. Auf Jahressicht lag das Wachstum demnach bei 3,5 Prozent – Werte, von denen Deutschland nur träumen kann.

Boom durch Waffen und Panzer

Aber auch von diesem Boom darf man sich nicht täuschen lassen: Es gibt Menschen und Unternehmen, die vom Krieg profitieren und besser verdienen als vor dem Angriff auf die Ukraine. Aber die Kriegswirtschaft läuft allmählich heiß und steht kurz vor dem Überhitzen. Neue Arbeitskräfte finden Unternehmen nur noch, wenn sie mit immer höheren Löhnen locken. Für Mechaniker, Schweißer und LKW-Fahrer seien die Gehälter vergangenes um bis zu 20 Prozent gestiegen, schreibt das Wirtschaftsportal Bloomberg. Damit befeuern sie die Inflation weiter. Das sei speziell für die Mittelschicht ein Problem, sagt Munz.

Und der ntv-Korrespondent verweist auf eine weitere Fehlentwicklung: Die russische Industrie produziert derzeit vor allem Waffen und Raketen, die wenig später in Flammen aufgehen. "Das Geld fließt in die Kriegsindustrie", sagt Munz. Das bringe zwar ein Wirtschaftswachstum, schaffe aber keine Werte.

Üble Aussichten

Der russische Boom lebt davon, dass Putin in der Ukraine Maschinengewehre, Panzer, Raketen und auch Russen verheizt: Allein in diesem Jahr will Russland 100 Milliarden US-Dollar für Verteidigung und Militär ausgeben, das ist ein Drittel des gesamten russischen Haushalts. Im Gegenzug werden Investitionen in Bildung, Straßen, den Wohnungsbau oder auch kritische Infrastrukturen wie Versorgungssysteme gekürzt, um das Budget auszugleichen.

Die Kyiv School of Economics formuliert es so: Obwohl Putins Fabriken aktuell mit Volldampf produzieren, sind die mittel- und langfristigen Aussichten übel. Sobald der Krieg als Wachstumsmotor wegbreche, würden alte Probleme der russischen Wirtschaft zum Vorschein treten, schreiben die ukrainischen Ökonomen in ihrer Analyse – und durch neue verschärft werden.

Russland: Mörder kommen frei, Kritiker ins Gefängnis

Denn in der Ukraine sind Hunderttausende Russen gefallen oder schwer verletzt worden. Um diesen demografischen Einschnitt zu verarbeiten, appellierte Putin im November öffentlich an die Frauen im Land, mehr Kinder zu bekommen. Am besten gleich sieben oder acht, um seine Vision vom "ewigen Russland" zu sichern: Die Rettung und Vermehrung der Menschen sei die Aufgabe für die kommenden Jahrzehnte, erklärte Putin seinem Volk.

Junge Russen kommen dafür nur teilweise infrage, denn viele von ihnen haben das Land in den vergangenen zwei Jahren verlassen: Etwa eine Million Russen sind seit Kriegsbeginn vor dem drohenden Armeedienst ins Ausland geflüchtet. Stattdessen laufen vermehrt Mörder und Vergewaltiger auf russischen Straßen herum, die Putin als Dankeschön für ihren Einsatz an der Front begnadigt hat. Ins Gefängnis wandern dagegen Kriegsgegner wegen der angeblichen "Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die russischen Streitkräfte".

Beschlagnahmung von Eigentum

"Das politische Klima in dem Land hat sich komplett verändert", sagt ntv-Reporter Munz. Als der Krieg vor zwei Jahren begonnen habe, hätten sich viele Menschen getraut, dagegen zu protestieren, obwohl Strafen gedroht hätten. "Das ist heute nicht mehr möglich", sagt Munz. Inzwischen würden in allen Bereichen Gesetze geschaffen, die es ermöglichen, jeden, der öffentlich eine kritische Meinung vertritt, zu sanktionieren, festzunehmen, zu bestrafen, mit Geldstrafen zu belegen oder ins Gefängnis zu stecken. "Das sind Dinge, die die Menschen massiv beschäftigen", sagt Munz.

Der neueste Ansatz der russischen Führung ist ein Gesetz, dass die Beschlagnahmung des Eigentums von Kriegsgegnern erlaubt. Die Neuerung sei einstimmig in der zweiten und dritten Lesung verabschiedet worden, hieß es auf der offiziellen Webseite des russischen Parlaments. "Wir haben die Frage mehr als einmal besprochen – die absolute Mehrheit tritt für die Notwendigkeit einer Bestrafung der Verräter ein, die aus dem Ausland Schmutz über unser Land und unsere an der militärischen Spezialoperation beteiligten Soldaten und Offiziere ausschütten, oder das nazistische Regime in Kiew unterstützen und finanzieren", erklärte Duma-Chef Wjatscheslaw Wolodin.

Wladimir Putin hat es geschafft. Die russische Wirtschaft boomt. Doch der Preis dafür ist hoch, und er wird nicht vom Kremlchef, sondern der russischen Bevölkerung gezahlt: Vor wenigen Tagen hat die russische Statistikbehörde Rosstat den ersten Anstieg von Alkoholerkrankungen in Russland seit 2010 gemeldet.

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