Jeder Krieg hat seine Profiteure. Der russische Überfall auf die Ukraine ist da keine Ausnahme. Auf den ersten Blick mag der Aggressor auf der internationalen Bühne isoliert, gar geächtet sein – doch nur solange man aus Richtung Westen schaut. Denn die asiatische Perspektive ist eine gänzlich andere. Auch mehr als 100 Tage nach Kriegsbeginn und Abertausenden Toten (darunter mindestens 287 Kinder) sträubt sich die Weltmacht China dagegen, Putins Feldzug zu verurteilen. Die viel beschworene "felsenfeste Freundschaft" zwischen Ost und Fernost hält stand.
Doch fährt nicht nur Peking den Kuschelkurs mit Moskau. Zumindest aus wirtschaftlicher Sicht gehört Indien zu den großen Gewinnern des Konflikts. Öl ist offenbar dicker als Blut.
Deutschland weiterhin zweitgrößter Abnehmer von russischem Brennstoff
Die Idee lag auf der Hand: Weil Russland einen Großteil seines Einkommens aus dem Verkauf fossiler Brennstoffe bezieht, müsste ein (möglichst kollektiver) Importstopp der putinschen Kriegsmaschinerie einen schmerzhaften, vielleicht kriegsentscheidenden Schlag versetzen. Nur sind viele europäische Länder – allen voran Deutschland – derart abhängig vom Kremlöl und -gas, dass ein kalter Entzug schlicht nicht möglich ist. Solidarität schön und gut – aber bitte nur in dem Maß, wie der Motor der Volkswirtschaft fleißig weiterbrummt.
Und so klingelt die Kriegskasse fröhlich weiter. 93 Milliarden Euro. So viel habe Russland seit Invasionsbeginn mit dem Export fossiler Brennstoffe verdient; 61 Prozent davon aus EU-Ländern. Dies belegen Zahlen der finnischen Denkfabrik "Centre for Research on Energy and Clean Air" (CREA). Deutschland habe für mehr als 12,1 Milliarden Euro geshoppt und liege damit Platz zwei der größten Abnehmer. Nur China soll mehr importiert haben (12,6 Milliarden Euro). Das Paradoxe an der Rechnung: Der Preis für russisches Öl ist eigentlich gesunken. Nur die Nachfrage eben nicht. Und so sind die russischen Exporteinnahmen im Vergleich zur Vorkriegszeit sogar noch gestiegen.
Wenn kaum ein Stein mehr auf dem anderen ist – Vorher-Nachher-Bilder zeigen massive Kriegsschäden

Indiens gewitzter Raffineriehandel im Ukraine-Krieg
Kunde der Monate Februar bis Mai ist jedoch unangefochten Indien. Die aufstrebende Wirtschaftsmacht mit 1,4 Milliarden Einwohnern ist laut CREA seit Kriegsbeginn zu einem der bedeutendsten Importeure von russischem Rohöl avanciert. Im vergangen Jahr waren laut der Rohstoffdatenfirma Kpler der Nahe Osten, die USA und Nigeria die wichtigsten Ölquellen für Indien, das BBC zufolge als drittgrößer Erdölverbraucher rund 80 Prozent seines Bedarfs importiert. Inzwischen wandere fast ein Fünftel des so wertvollen Rohstoffs aus Russland hierher, vor der Invasion sei es gerade einmal ein Prozent gewesen.
Der Clou an der Sache: Einen Großteil davon verkauft Indien weiter. Indische Privatraffinierien erstehen den Rohstoff zum Schnäppchenpreis, veredeln ihn und verschiffen ihn anschließend sanktionsfrei in die ganze Welt – höchstwahrscheinlich auch gen Westen. Und das lohnt sich. Das russische Rohöl kostet laut dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland" 30 bis 35 US-Dollar pro Barrel, international gehandelte Alternativen schlagen mit fast dem vierfachen Preis zu Buche. Allein im Mai hätten etwa 30 russische Tanker an indischen Häfen angelegt, täglich würden circa 430.000 Barrel entladen. Seit Februar hätten sich die Einfuhren mehr als verachtfacht. Die US-Regierung, so die BBC, habe sich zwar beschwert, jedoch zugegeben, nichts gegen diese Praxis tun zu können. Schließlich gebe es keine Sekundärsanktionen.
Staatliche Raffinerien "müssen in sauren Apfel beißen"
Aufgrund der gewaltigen Entfernungen, die die Frachter bei diesem Hin und Her zurücklegen, sei der Bedarf an Tankern massiv gestiegen, berichtet das CREA. Wie der indische Ableger des "Business Insider" Anfang April berichtete, hätten seit Kriegsbeginn im Durchschnitt zwölf russische Öltanker pro Woche illegal ihre Ortungssysteme abgestellt. Mittels dieser Praxis des "Going dark" könnten die Tanker ihre Bestimmungsorte verschleiern und so versuchen, westlichen Sanktionen zu entgehen. Doch, so CREA, würden inzwischen rund zwei Drittel der Schiffe von europäischen und US-amerikanischen Unternehmen betrieben. Die zu sanktionieren müsse oberste Priorität sein.
Für den indischen Raffineriesektor bedeutet dies jedoch eine Spaltung, wie die Nachrichtenagentur Reuters schreibt. Denn staatliche Unternehmen bekämen kein Stück vom russischen Kuchen ab. Sie unterlägen den hohen internationalen Preisen und gerieten zusätzlich durch die vom Staat gedeckelten inländischen Kraftstoffpreise unter Druck. Privatraffinerien wie Reliance Industries und Nayara Energy verkaufen inzwischen geringere Mengen an indische Kunden – schließlich wollen sie den globalen Markt bedienen. Im Umkehrschluss müssen die staatlichen Unternehmen ihre Produktion hochfahren, zahlen dadurch jedoch für jeden Barrel drauf, wie ein indischer Beamter Reuters erklärt. "Sie [die staatlichen Kraftstoffhändler] müssen in den sauren Apfel beißen und die Inlandsnachfrage befriedigen, während die privaten Raffinerien Geld drucken", erklärt Ul Haq, Analyst beim US-Wirtschaftsinformationsdienst Refinitiv gegenüber der Agentur.
Quellen: CREA; "Redaktionsnetzwerk Deutschland"; BBC; Reuters