Auswegszenario Der Westen setzt sich den "Sieg der Ukraine" zum Ziel – doch was heißt das eigentlich?

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, gratuliert ukrainischen Athleten per Videoschalte
Geste des Triumphs: Ein Sieg der Ukrainer ist nicht mehr ausgeschlossen
© Ukraine Presidency / Ukraine Presi / Planet Pix via ZUMA Press Wire / DPA
Das Blatt hat sich gewendet. Dass der Westen einen Sieg der Ukraine forciert, damit hätte vor 100 Tagen noch niemand gerechnet. Doch was heißt überhaupt "Sieg"? Und wie könnte der in der Ukraine aussehen?

"Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen" – das sind die deutlichsten undeutlichen Worte, zu denen sich Bundeskanzler Olaf Scholz bislang hat hinreißen lassen, wenn es darum geht, die deutschen Ziele im Ukraine-Krieg zu formulieren.

Dass er kein Freund der klaren Ansagen ist, das hat sich schon zu so etwas wie seinem Regierungskurs entwickelt. Auch im Fall des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine tänzelt der Kanzler geradezu grazil um ein klares Bekenntnis herum. Zwar liefert die Bundesrepublik inzwischen schwere Waffen – oder hat es zumindest ganz fest versprochen.

Was die Ampel damit aber letztlich erreichen will, dazu bleibt Scholz bislang eine Antwort schuldig. Im Gegensatz zu seiner Außenministerin. "Die Ukraine muss gewinnen", sagte sie am Mittwoch ohne Umschweife bei "Lanz" im ZDF und fährt damit ihrem Koalitionspartner wieder einmal in die Parade und zeigt aufs Neue, dass die Ampel außenpolitisch grellgrün leuchtet. Aber Überraschung: Berlin hinkt mit dieser Einsicht – mal wieder – hinterher. Ob US-Präsident Biden, EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen oder britische Premier Boris Johnson: Sie alle haben sich längst einem Sieg der Ukraine verpflichtet.

Angenommen, ein Sieg der Ukraine stünde ganz offiziell auf dem Wunschzettel der Bundesregierung: Was gilt eigentlich als Sieg? Und wie sähe der nach vier Monaten Dauerfeuer, Millionen Vertriebenen, zerbombten Städten und Tausenden Toten aus?

Der Begriff "Sieg" ist veraltet

In der modernen Kriegsführung kann ein Sieg so gut wie nie rein militärisch gesehen werden. Waffengewalt bestimmen in der Regel das Ergebnis eines Krieges, aber andere Faktoren (wie etwa ein Regierungswechsel oder die Rolle von Verbündeten) legen den Zeitpunkt des Kriegsendes fest. So fasste es Raymond O'Connor von der Universität Miami in einem 1969 in der Fachzeitschrift "Journal of Peace Reserach" erschienenen Aufsatz zusammen. 

Was zunächst als Sieg verbucht wird, kann sich zudem mit etwas zeitlichem Abstand als grobe Fehleinschätzung erweisen. Beispiel Irak: Als Präsident George W. Bush am 1. Mai 2003 den Sieg der USA und seiner Verbündeten in der "Schlacht um den Irak" verkündete, waren 140 US-Soldaten gefallen. Nach seiner Siegesrede starben 4347 weitere, wie die US-Zeitung "Boston Globe" in einer Analyse zehn Jahre später zusammenfasst. Die Vorstellung eines Sieges sei fälschlicherweise immer noch von der bedingungslosen Niederlage der Deutschen im Zweiten Weltkrieg geprägt, erklärte William Martel, Professor für internationale Sicherheitsstudien an der Tufts University, gegenüber der Zeitung. Manche Forscher plädierten deshalb sogar dafür, den Begriff "Sieg" vollends abzuschaffen. Wer an dieser Überlegung zweifelt, muss nur einmal nach Syrien, Afghanistan oder eben in die Ukraine schauen.

Martel unterscheidet hingegen den Sieg in drei Kategorien:

  • Taktischer Sieg:  kleinere, sichtbare Gewinne wie die Zerstörung der gegnerischen Luftstreitkräfte oder Gebietsgewinne
  • Strategischer Sieg: Anhäufung mehrerer taktischer Siege, die letztlich zur Folge haben, dass eine Partei der anderen bei Verhandlungen ihren Willen aufzwingen kann
  • Großer strategischer Sieg: der seltene Fall nach Vorbild des Zweiten Weltkrieges, bei dem die Ideologie des Besiegten vernichtet und die Weltpolitik neu definiert wird

Eric Patterson von der Georgetown University setzt die Messlatte niedriger. "Wenn eine rudimentäre Ordnung wiederhergestellt ist, kann man von einem Sieg sprechen, sagt er gegenüber dem "Boston Globe". Unter Ordnung verstehe er "ein Grundmaß an Sicherheit und die ersten Früchte einer politischen Ordnung". Das klingt schon eher nach einer ukrainischen Lösung.

Wer was am Ende als Sieg verkaufen kann, das hängt folglich vom Blickwinkel ab. Schließlich wird der Ausgang eines bewaffneten Konflikts nicht in Punkten abgerechnet. Denn natürlich will keine Konfliktpartei als Verlierer dastehen. Entscheidend sind also die Ziele.

Die Kriegsziele haben sich seit Invasionsbeginn massiv geändert

Die von Kiew zu Kriegsbeginn ausgerufenen Ziele (schon damals gelinde gesagt aussichtslos) sind nach Ansicht von Professor Eliot Cohen von der John Hopkins Universität nicht mehr einzuhalten – zumindest in einem Punkt. Denn, so schreibt er in einem Beitrag für das US-Magazin "The Atlantic", was die Wiederherstellung der staatlichen Souveränität anbelangt, da müsse sich die ukrainische Führung trotz schwerer russischer Niederlagen inzwischen zwangsläufig entscheiden. Eine vollständige Rückeroberung des Staatsgebiets, inklusive der 2014 von Russland annektierten Krim, den von Separatisten kontrollierten Donbassrepubliken und den während des russischen Überfalls verlorenen Gebieten im Süden und Osten des Landes, all das auf einmal werde wohl kaum realisierbar sein. Sollte Kiew zusätzlich auf dem Recht der EU und der Nato beizutreten, sowie Reparationszahlungen vom Kreml pochen, dürften man noch lange auf ernsthafte Friedensverhandlungen warten.

Die russischen Kriegsziele sind – womit die wenigsten zum Invasionsbeginn gerechnet hätten – nicht minder hochgestochen: Sturz der Selenskyj-Regierung, die Besetzung der Ost-, am liebsten aber der gesamten Ukraine und damit deren Abkopplung vom verhassten Nato-Westen. Nicht zu vergessen: die Entnazifizierung des Nachbarn – was auch immer das heißen mag.

Tatsächlich, so schreibt Cohen weiter, dürfte der Kreml vier Monate nach Invasionsbeginn seine Erwartungen heruntergeschraubt haben. Nach der Verschleißniederlage bei der Belagerung von Kiew, das ja eigentlich per Blitzsieg fallen sollte, konzentrierte sich das russische Militär auf Feldzüge im Osten und Süden der Ukraine. Das neue Ziel sei die komplette Kontrolle über den Donbass, die Schwarzmeerküste und später das Errichten einer Landbrücke von Russland zur Krim gewesen. Doch spielt Russland jeden Tag aufs Neue gegen die Zeit. Schließlich war das alles so nicht geplant. Der aus Kreml-Sicht sicherlich wundersam geeinte Westen und seine Sanktionen zermürben die russische Wirtschaft. Moskau mag den Gas-, der Westen allerdings den Geldhahn zudrehen. Russlands einziges Faustpfand ist die Kontrolle über Seehäfen und damit über einen wesentlichen Teil der globalen Nahrungsversorgung. "Hunger als Waffe" nannte das Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir sehr treffend.

Nach mehr als drei Monaten müssen folglich beide Seiten ihre ursprünglichen Ziele überdenken. Die Frage ist, welche Partei zu welchen Eingeständnissen bereit ist. Sowohl Kiew als auch Moskau müssen ein potentielles Friedensabkommen am Ende als Sieg verkaufen – die einen um ihres leiblichen und freiheitlichen, die anderen um ihres politischen Überlebens Willen.

Die Ukraine hat auf gewisse Weise schon jetzt gewonnen

Was die Ukraine als Sieg verbucht, kommt in erster Linie auf die Ziele an, die man sich in Kiew setzt. Dass sich Russland vollständig aus dem ukrainischen Staatsgebiet zurückzieht und die Donbassrepubliken wiedereingegliedert werden, ist zwar theoretisch möglich, würde in der Praxis aber wohl mindestens weitere Monate Blutvergießen bedeuten.

Wie Orysia Lutsevych, Leiterin des Ukraine-Forums und des Russland- und Eurasien-Programms bei der britischen Denkfabrik Chatham House, dem britischen "Guradian" erklärt, wäre es schon ein Sieg, wenn sich die Ukraine nach Friedensverhandlungen in einer sichereren Lage befände als vor Kriegsbeginn. Sprich: Der Sieg in diesem so gesehen zweiten russisch-ukrainischen Konflikt innerhalb von zehn Jahren sollte einen dritten verhindern.

Ein solcher Sieg für die Ukraine würde aber eine Niederlage für Putin bedeuten. Und die kann sich der Kremlchef nicht leisten, hängt doch sein politisches Überleben davon ab. Der Autokrat muss einen wie auch immer gearteten Waffenstillstand daheim als Erfolg verkaufen können. Das wird allerdings angesichts Tausender toter Soldaten, massiver Isolation und internationaler Ächtung mit jedem Tag schwieriger.

Das Wahrscheinlichste: Die ukrainischen Truppen halten (nicht zuletzt dank Milliarden- und Waffenlieferungen aus dem Westen) weiterhin Stand, dem Kreml gehen Truppen, Geld und Moral aus, die russische Wirtschaft kollabiert zusehends. Durch diesen nach Martel "strategischen Sieg" der Verteidiger sieht sich Putin zu Verhandlungen gezwungen, die in einer Rückkehr zum Status Quo des 24. Februar 2022 resultieren. Russland behielte die Krim und die Kontrolle über Teile des Donbass, die Ukraine bliebe souverän.

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"Wenn man den Krieg über diesen Punkt hinaus fortsetzt, würde es nicht um die Freiheit der Ukraine gehen, sondern um einen neuen Krieg gegen Russland selbst", schloss Ex-US-Außenminister Henry Kissinger der "New York Times" zufolge auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Dass es so einfach kaum werden wird, lässt die Reaktion von Präsident Selenskyj vermuten. Der bezeichnete die Idee als "Beschwichtigungspolitik" und warf Kissinger vor, im falschen Jahrhundert zu leben.

Die Ergebnisse solcher Verhandlungen würden zwar beide Seiten als Sieg feiern – in Kiew allerdings ehrlich, in Moskau unter Zähneknirschen. Stand jetzt bleibt anzunehmen, dass der Kreml auf einer Garantie besteht, wonach die Ukraine nicht Teil der Nato wird. Immerhin hatte das Selenskyj zwischenzeitlich nicht ausgeschlossen.

Doch entsteht inzwischen der Eindruck: Russland hat schon verloren. Zu diesem Schluss kam die französische Denkfabrik Institut Montaigne schon in einem Beitrag Ende März. Die Nato agiert in lang vermisster Einigkeit, Grenztruppen werden massiv aufgestockt, europäische Mächte (allen voran Deutschland) haben ihre pazifistische Außenpolitik abgelegt. All die anfänglich "rationalen" Gründe für den russischen Überfall sind bereits jetzt ad absurdum geführt. Und damit hat die Ukraine auf gewisse Weise schon jetzt gewonnen. Verloren haben trotzdem alle, egal wie es ausgeht.