Vor dem Krieg in der Ukraine war Mariupol mit 400.000 Einwohnern die größte Hafenstadt am Asowschen Meer. Doch nach über drei Kriegsmonaten ist von der Metropole kaum noch etwas übriggeblieben. Berichten zufolge sollen 90 Prozent der Stadt zerstört worden sein. Auch der Hafen wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen. Zwischen dem 16. und 20. Mai haben sich alle ukrainischen Kämpfer ergeben. Sie zählten zur letzten Bastion, die sich im Asov-Stahlwerk verschanzt hatte. Rund 2500 ukrainische Kämpfer befinden sich seitdem in russischer Gefangenschaft. Für sie sieht es nicht gut aus: Ihnen droht eine Anklage wegen Kriegsverbrechen. Nach Angaben pro-russischer Separatisten könnten sie sogar hingerichtet werden.
Die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti zitierte Jurij Sirowatko, den Justizminister der selbsternannten Volksrepublik Donezk, mit den Worten Asow-Regiment werde "als terroristische Organisation betrachtet", gegen alle ihm angehörigen Kämpfer werde "strafrechtlich ermittelt". Das Asow-Regiment hatte früher Verbindungen zu rechtsextremen Gruppen, die russische Regierung bezeichnet es bis heute als "Neonazi-Organisation".
Die Regierung in Kiew hat mehrfach erklärt, die Asow-Kämpfer gegen russische Kriegsgefangene austauschen zu wollen. Moskau erklärte hingegen, die ukrainischen Kämpfer sollten vor Gericht gestellt werden. Am Samstag hatten Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der französische Präsident Emmanuel Macron in einem Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die Freilassung der gefangenen Kämpfer aus dem Asow-Stahlwerk gefordert.
"Frauen aus Stahl"
Auch die Schwestern, Ehefrauen und Mütter der Kämpfer haben Russland zur Freilassung der Männer aufgefordert. Die Verteidiger von Mariupol hätten heldenhaft und auf Befehl die Stadt gegen russischen Angriffe verteidigt. "Sie sind Helden und dürfen nicht in Vergessenheit geraten und müssen nach Hause zurückkehren", sagte Natalija Sarizka am Montag in Kiew vor Journalisten.
Sie ist Initiatorin der neuen Organisation "Frauen aus Stahl" in Anlehnung an die Männer, die wochenlang in dem Asow-Stahlwerk in Mariupol die Stellung gehalten hatten. Auch Kriegsgefangene hätten Rechte, sagte Sarizka. Sie hat zu ihrem Mann seit dem 17. Mai keinen Kontakt mehr. Dabei stünden ihm etwa zwei Telefonate pro Woche zu. "Wir stehen als Frauen zusammen. Unsere Stärke ist der Zusammenhalt", sagte sie.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte den Vereinten Nationen und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz zugesichert, dass die Männer gemäß den internationalen Rechtsstandards behandelt würden. Sie sollten auch medizinisch versorgt werden. "Dieses Versprechen ist die einzige Hoffnung, dass er zumindest das hält", sagte Sandra Krotewytsch über den Kremlchef. Ihr Bruder Bohdan Krotewytsch (29) sei stellvertretender Kommandeur des Asow-Regiments gewesen. "Ich weiß nicht, wo er ist, wie es um seine Gesundheit steht. Ihm drohen Folter und Misshandlungen in russischer Gefangenschaft", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur in Kiew. Sie hoffe, dass er über ein Drittland in die Ukraine zurückkehren könne.
Handel in Mariupol nimmt wieder Fahrt auf
Jenseits dessen geht das Leben in Mariupol weiter – so gut das unter den gegebenen Umständen eben möglich ist. Verbliebene Anwohner versuchen inmitten der Trümmer zu überleben, während die pro-russischen Separatisten mehrere Handelsschiffe beschlagnahmt haben. "Ein Teil der Schiffe kommt unter die Rechtshoheit der Donezker Volksrepublik", sagte Separatistenführer Denis Puschilin am Dienstag laut der Nachrichtenagentur Interfax. Die Schiffe würden umbenannt und Teil einer neu entstehenden Handelsflotte der Republik. Das erste Schiff mit einer Ladung von 2500 Tonnen Metall sei nun in die russische Millionenstadt Rostow-am-Don geschickt worden.
Die Ukraine hatte die Verschiffung des Metalls als "Plünderei" bezeichnet. Kiew wirft Moskau und den mit ihr verbündeten Separatisten den Diebstahl strategisch wichtiger Güter vor. So sollen auch bis zu 500.000 Tonnen an Getreide aus den besetzten Gebieten in der Ukraine nach Russland verfrachtet worden sein.
Puschilin betonte am Dienstag, der Hafen von Mariupol sei ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt für die gesamte ostukrainische Donbass-Region. "Er ist ein sehr wichtiger Hafen am Asowschen Meer und der einzige, in dem auch im Winter alle Arten von Waren umgeschlagen werden können." Laut russischen Nachrichtenagenturen kündigte Puschilin an, dass ein Teil der Schiffe aus Mariupol in die Handelsflotte der selbsternannten Volksrepublik Donezk übergehen soll.