Krieg in der Ukraine Bachmut ist gefallen – doch wer hat gesiegt: Kiew oder Moskau?

Wagner-Chef Prigoschin feiert den Sieg
Wagner-Chef Prigoschin feiert den Sieg
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Die Wagner-Söldner haben den Trümmerhaufen, der einst die Stadt Bachmut war, nach eigenen Angaben erobert. Welchen Preis sie dafür zahlen mussten und was nach dem Fall der Stadt passieren wird.

Bachmut ist scheinbar gefallen, nach einem langen, zähen Ringen ist es den Wagner-Söldnern anscheinend gelungen, die letzten ukrainischen Verteidiger aus der Stadt zu werfen. Das hatte Jewgeni Prigoschin, Chef der Wagner-Truppe, am Samstag verkündet – russische Medien griffen die Nachricht umgehend auf. Die ukrainische Führung allerdings bestreitet den militärischen Erfolg Moskaus. Präsident Wolodymyr Selenskyj, der zunächst mit missverständlichen Äußerungen die Spekulationen um die Eroberung der Stadt noch befeuert hatte, wies am Sonntag die vollständige Einnahme Bachmuts durch russische Truppen zurück.

Die Bewertung der Schlacht wird wesentlich vom Standpunkt des Betrachters bestimmt. Aus ukrainischer Sicht werden der Heroismus der Verteidiger, die lange Dauer des Abwehrkampfes und die horrenden russischen Verluste ins Feld geführt. Garniert mit Bemerkungen, wie unwichtig die Stadt doch sei und – bei ganz Überzeugten – dass der Rückzug nur ein taktisches Manöver sei, da die nun von Russen besetzte Stadt alsbald von den Flankenangriffen eingekesselt wird. Die Russen sitzen quasi in der Falle.

In der Propaganda siegt jeder 

Die Russen hingegen werden betonen, dass sie die Stadt eingenommen und letztlich gesiegt haben. Auch sie werden schwere Verluste der Ukraine für sich in Anspruch nehmen. Und sich genüsslich über alte Meldungen auslassen, dass ihre Kämpfer dumme Zombies oder unausgebildete Kriminelle seien, die nur mit Schaufeln bewaffnet verheizt worden sind.

Wie sieht es nun wirklich aus? Bachmut als Stadt hat keinerlei strategische Bedeutung. Jetzt ist sie ein Trümmerfeld, in dem nichts mehr funktioniert und auch vor den Kämpfen war Bachmut nur die 80-größte Stadt der Ukraine und beherbergte keine wichtigen Industrien. Doch Bachmut wurde zu einer Festung ausgebaut und darin liegt die Bedeutung der Stadt: "Fort Bachmut". Über Jahre hinweg wurde die Stadt befestigt. Für die Verteidigung bot sie hervorragende Grundbedingungen wegen ihrer Lage und ihrer Größe. Die Stadt ist von Flüssen und Kanälen umgeben. Und setzt sich scharf von der Umgebung ab, mäandert also nicht in einem Meer von Bebauung aus. Mit ihren Hochhäusern beherrscht sie die Umgebung. Ihre geringe Größe machte es möglich, sie effizient zu verteidigen. 

Fort Bachmut 

Diese Festung ist nun gefallen. Damit haben die Russen keinen Durchbruch erreicht. Bachmut lag als Wellenbrecher vor der letzten Verteidigungskette im Donbass. Diese schützt weiterhin das Land bis zum Dnjepr. Es ist überhaupt nicht abzusehen, dass die Russen die Städte dieser Kette angreifen oder gar einnehmen können. Doch sie sind bedroht, seitdem ihr Wellenbrecher gefallen ist.

Generell ist der Verteidiger in Städtekämpfen im Vorteil. In der reinen Lehre benötigt der Angreifer weit mehr Soldaten, um Erfolge zu erzielen. Andererseits ist der Sieg meist auf der Seite des Angreifers. Die Deutschen wurden in Stalingrad nicht im Stadtgebiet besiegt. Die Sowjets brachen weit außerhalb der Stadt in der Steppe durch die deutschen Linien und kesselten sie in der Stadt ein. Die ukrainischen Streitkräfte sind besser in der Lage sich schnell wechselnden Lagen anzupassen. Ihre Stärke ist das bewegliche Gefecht. In Bachmut – wie auch schon zuvor im Donbass – ist es den Russen gelungen, Kiew in weitgehend statische Gefechte zu verwickeln, wo die ukrainischen Streitkräfte diesen Vorteil nicht ausspielen konnte. Ganz ausdrücklich nennen die Russen ihre Vorgehensweise den "Fleischwolf". Die Fortschritte im Gelände bedeuten wenig, wichtig ist es allein, die Truppen des Gegners abzunutzen.

Keine Umfassung 

In der zehn Monate tobenden Schlacht ist es den Russen nicht gelungen, die Ukrainer einzukesseln wie in Mariupol. Die Verbindungswege der Ukrainer in die Stadt waren zeitweise bedroht. Doch zumindest kleinere Straßen und Feldwege blieben immer offen. Und trotz der Nähe der Russen, der Feuerkraft ihrer Artillerie und dem Einsatz von Drohnen, ist es ihnen nicht gelungen, den Verkehr komplett lahmzulegen. Die Wege sind mit ausgebrannten Wracks gesäumt, doch gemessen an der langen Zeitdauer der Kämpfe, erscheinen die Verluste nicht extrem hoch.

So konnten die Ukrainer bis zuletzt Nachschub und frische Soldaten in die Stadt und ihre Verwundeten herausbringen. Auch der letzte Rückzug aus der Stadt verlief geordnet. Die Russen werden nicht Hunderte oder gar Tausende von Gefangenen vorweisen können und die letzte Nachhut wurde auch nicht auf den Feldern vor Bachmut zusammengeschossen.

Wagnersöldner stärker als je zuvor

Doch auch Kiew glückte Vieles nicht. Trotz des Einsatzes von Himars und Meldungen über brennende russische Depots litten die Russen nicht unter Nachschubmangel. Und wenn doch, dann aufgrund von Animositäten zwischen der Wagner-Gruppe und den Berufsmilitärs. In der letzten Phase der Schlacht wurden die unter ukrainischer Kontrolle verbliebenen Gebiete der "Zitadelle" ununterbrochen und massiv beschossen. Ganze Straßenzüge gingen in Flammen auf. Von Munitionsmangel war nichts zu spüren. Dazu kommt ein weiterer Faktor. Trotz der westlichen Hilfe in Sachen Luftabwehr spielt Putins Luftwaffe wieder eine Rolle. Die Russen – wie auch andere Staaten -- haben einen Bausatz entwickelt, der die vorhandenen "dummen" Bomben in präzise Gleitbomben verwandelt. Sie werden von einem Jet außerhalb der Reichweite der ukrainischen Luftverteidigung ausgeklinkt und segeln dann zu ihrem Ziel (Putins Luftwaffe ist wieder da – so tödlich sind die neuen, improvisierten Gleitbomben). So können Sprengköpfe von 500 Kilogramm und mehr eingesetzt werden. Diese Waffe hat den Häuserkampf in Bachmut komplett verändert. Hochhäuser aus der Sowjetzeit oder Bunker können von Artillerie nur mühsam und langsam zerstört werden. Ein Bombentreffer dagegen schneidet so ein Hochhaus in Stücke. Zu befürchten ist, dass die Russen in Zukunft Gleitbausätze für noch schwerere Bomben entwickeln werden (Wird Putin den Vater aller Bomben einsetzen?)  Im Westen wurde ausgiebig über die großen Verluste der Wagner-Söldner berichtet. Das wird im Falle der kaum ausgebildeten Kriminellen richtig sein. Doch in der Endphase des Kampfes um Bachmut zeigte sich die Söldnertruppe nicht ausgeblutet und erschöpft. Sie agierte entschlossener und stärker als je zuvor. Allzu große Hoffnungen, dass von der Gruppe nichts übrig sei, sollte man sich nicht machen.

Erfolg im Rückzug 

Die Eroberung von Bachmut verlief langsam, die Ukrainer leisteten einen zähen, zurückweichenden Widerstand. Weniger wird dabei beachtet, dass die Russen sich offenbar besser an die Bedingungen anpassen konnten als die Ukrainer. Ihre Anstrengungen wurden mit der Zeit effektiver, das Tempo ihres Vorrückens beschleunigte sich, der Widerstand der Verteidiger ließ bis zuletzt nicht nach, doch fiel es ihnen schwerer, die Angriffe abzuwehren. Auch aus der letzten von Kiew gehaltenen Zone der "Zitadelle" wurden sie innerhalb weniger Tage vertrieben.

Woran liegt das? Die Russen sind heute besser in der Lage, auch komplexe Operationen zu koordinieren. Die Angriffe ihrer Sturmtruppen mit Drohnen, Gleitbomben und Artillerie abzustimmen. Wie die Ukrainer schon zuvor, sind sie in der Lage, ihre Truppen gemäß der Güte ihrer Ausbildung einzusetzen. Dann haben sie erkannt, dass schwere Fahrzeuge im Häuserkampf ein leichtes Ziel sind und die Feuerkraft von Artillerie, Mörsern und Raketenwerfer kommen muss. Bachmut war ein Kampf der Infanteriegruppen.

Und auch hier haben die Russen eine Lernkurve hingelegt. Zu Beginn des Krieges wurde ein Video bekannt, wie eine ganze Gruppe von russischen Soldaten in einem Fahrstuhl gefangen wurde, weil der Hausmeister ihn gestoppt hatte. So etwas wird nicht mehr geschehen. Die Wagner-Söldner haben ihre Lektion im Häuserkampf gelernt.

Flankendurchbruch unwahrscheinlich 

Was folgt aus der Eroberung von Bachmut? Zunächst einmal nichts, es ist eher unwahrscheinlich, dass die Russen aus diesem Raum heraus zu weiteren größeren Eroberungen antreten werden. Sie haben in der Stadt Fußsoldaten versammelt. Im offenen Gelände müssten gepanzerte Truppen eingesetzt werden, wenn das überhaupt möglich sein wird.

Offen ist, ob Kiew weiterhin versuchen wird, an den Flanken der Stadt durch die russischen Stellungen zu brechen. Die Aussicht, die Stadt zu umfassen oder zumindest zu bedrohen, ist reizvoll. Sowohl die nördliche als auch die südliche Flanke werden auf russischer Seite von Truppen verteidigt, die den ukrainischen Kräften unterlegen sind.

Doch sitzen Kiews Truppen seit 14 Tagen fest. Sie machten weiter Gewinne im Vorfeld der russischen Linie, ein Durchbruch gelang ihnen nicht. Die Russen hatten lange genug Zeit, sich anzupassen und weitere Truppen heranzuführen, um die Verteidigungslinie zu verstärken und auch um einen möglichen Durchbruch abzuriegeln.

Selbst der britische Geheimdienst, stets sehr optimistisch, was die Aussichten Kiews angeht, bestätigt die russischen Verstärkungen.

Die verstrichene Zeit verringert die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen Erfolges. Dazu sind nicht nur die Wagnersöldner frei geworden, sondern auch die massive Feuerkraft der russischen Artillerie in Raum Bachmut. Mit der gleichen Wucht, mit der die Russen in den letzten Tagen die letzten ukrainischen Stellungen in der Stadt zerschossen haben, können sie nun die ukrainischen Angriffstruppen bearbeiten, die in improvisierten Stellungen im offenen Gelände ausharren müssen.

Keine Sprungschanze für Moskau  

Beide Seiten werden einen Sieg für sich reklamieren. Die entscheidende Frage sind die Verluste. Solange man die nicht wirklich quantifizieren kann, bleibt jede Bewertung der Schlacht spekulativ oder zumindest vorläufig. Im Hinterkopf sollte man behalten, dass im Krieg des "Fleischwolfes" Russland mehr Verluste ertragen kann als die Ukraine. Moskau müsste ungleich mehr Soldaten verlieren als Kiew, um gemäß dieser Logik zu verlieren.

Kiew wird zu Recht in Anspruch nehmen, die Russen hier sehr lange aufgehalten zu haben. Das kann man einen Sieg nennen, aber es bleibt ein Erfolg in einem Rückzugsgefecht. Der Wert liegt darin, woanders noch Schlimmeres, etwa einen Durchbruch, verhindert zu haben. Und so wurde die Zeit für die Vorbereitung der Gegenoffensive erkauft. Es ist kein Sieg, der Kiew neue operative Möglichkeiten eröffnet - im Gegenteil.

Russland wird den Sieg über den Trümmerhaufen feiern – auch wegen der symbolischen Bedeutung des Ortes und ihm wieder den Sowjetnamen Artjomowsk geben. Im Rahmen der Donbass-Mystik aus der Stalinzeit ist das ein bedeutsamer PR-Erfolg. Dabei ist es ein mühsames, verlustreiches Vorrücken gewesen, sicherlich wird diese Schlacht nicht als "glanzvoll" in die Geschichte eingehen. Bedrohlich bleibt, dass die besten Kräfte der Ukraine die Wagnertruppe letztlich nicht aufhalten konnten, dass die Söldner deutlich dazugelernt haben und zuletzt weitaus stärker als zu Beginn aufgetreten sind. Größere Möglichkeiten eröffnet diese Eroberung dem Kreml nicht, Bachmut ist nicht das Sprungbrett für eine raumgreifende Operation im Sommer.