Die Kleinstadt Awdijiwka ist gefallen. Eher fünf nach als fünf vor zwölf hat das ukrainische Oberkommando versucht, den Rest seiner Truppen aus der Stadt zu ziehen, nachdem der Einsatz der Eliteformation 3. Separate Sturmbrigade die Lage nicht hat stabilisieren können. Diese Niederlage ist in verschiedener Hinsicht eine Katastrophe für die freie Ukraine und der Fall von Awdijiwka weit schlimmer als die Niederlage in Bachmut im Jahr zuvor.
Am Boden hat Kiew im letzten Jahr nichts erreichen können, die große Offensive brachte große Verluste und keine nennenswerten Gewinne. Die Eroberung von Awdijiwka beweist nun, dass Kiew den Vormarsch der Russen verlangsamen und erschweren kann, aber nicht aufhalten. Damit legt sich ein dunkler Schatten über die Front: Auch die nächste Stadt, die die Russen belagern, wird fallen. Vielleicht später, als Putin lieb ist, aber dennoch.
Sehr viel dazugelernt
Besonders erschreckend ist, wie viel die Russen seit Beginn des Krieges dazugelernt haben. Bachmut wurde von der Söldnertruppe Wagner mit Hilfe von Fallschirmjägern erobert. Mit Brutalität, mit Wildheit und mit großen Verlusten. Erinnert sei an den Einsatz kaum ausgebildeter Strafgefangener, die ins Feuer der Verteidiger liefen. Dazu behinderten Streitereien zwischen dem Söldnerführer Prigoschin und dem russischen Militär die ganze Operation. Das haben die Russen hinter sich gelassen. Die Awdijiwka-Operation wurde von General Andrei Mordvichev geleitet, dem Eroberer von Mariupol.
Ihn hatte die Ukraine 2022 bereits für tot erklärt. Nun hat er Kiew die zweite schwere Niederlage beigebracht. Auch in Awdijiwka mussten die Russen in der ersten Phase bei der Annäherung über freies Gelände schwere Verluste hinnehmen. Akribisch wurden im Westen die zerstörten oder beschädigten Fahrzeuge gezählt. Vor anderen Dingen wollte man nichts wissen. Den berüchtigten Angriffen von "Wellen aus Fleisch" begegnet die Verteidigung mit einem "Wall von Fleisch". Die russischen Sondierungsangriffe führen dazu, dass die Verteidiger ihre Positionen verraten, wenn sie den Angriff zurückschlagen. Und dann werden sie mit Artillerie und Bomben attackiert. Immer wieder, bis die ganze Verteidigung mürbe wird. In dem engen Raum der Kleinstadt können die Ukrainer ihre Stellung nicht zurücknehmen und sind so gezwungen, immer neue Trupps in diese Blutmühle zu schicken. Im Drohnenkrieg konnte Kiew noch lange mithalten, aber bei den schweren Waffen war die Ukraine von Beginn an im Hintertreffen.
Absolute Luftüberlegenheit
Die Schlacht wurde von Artillerie bestimmt und von Putins Luftwaffe. So erklären sich auch die über-optimistischen Verlustangaben. Die Männer, deren Stellungen von Fernwaffen zerdrückt werden, tauchen in diesen Listen nicht auf. Dabei ist die russische Feuerkraft enorm. Auf Awdijiwka sind zeitweise bis zu 100 Präzisionsbomben am Tag gefallen. Russlands Kampfhubschrauber und Erdkampfflugzeuge können nach wie vor nicht direkt in die Schlacht eingreifen. Dafür hat Putin aber Gleitbomben. Sie sind nicht so sophisticated wie eine Cruise Missile vom Kaliber der Taurus oder Storm Shadow, aber sie treffen einen Bunker, einen Graben, oder einen Keller präzise genug. Und diese Bomben bringen einen Sprengsatz von 500 bis 1500 Kilogramm ins Ziel. So tödlich Einwegdrohnen auch sind, sie haben eine kleinere Reichweite, werden gestört und transportieren nur einen kleinen Sprengsatz. Eine schwere Gleitbombe verwandelt ein ganzes Hochhaus in einen Schutthaufen.
Das westliche Institut of War stellte fest, erstmals in dem Krieg hätten die Russen die vollständige Luftherrschaft erreicht und dabei konnten sie die ukrainische Luftverteidigung vollständig unterdrücken. Wie viele Soldaten Kiew in der letzten Phase der Kämpfe verloren hat, wird man nicht beantworten können. Zuletzt dürften sich kaum mehr als 3000 Mann in der eigentlichen Stadt befunden haben, die noch einmal durch die 3. Separate Sturmbrigade verstärkt worden sind. Ein Teil konnte ausbrechen, ein anderer Teil hat sich auch nach der Einnahme in Kellern und Waldstücken versteckt und viele sind gefallen. Es gibt Hinweise, dass die Russen die Azov-Männer der 3. Separaten Sturmbrigade erschießen und nicht gefangen nehmen.
Es ist ein Krieg in Echtzeit. In den letzten Tagen wurden verzweifelte Szenen aus dem Kessel gesendet. Soldaten, die ohne Kommunikation und Fahrzeuge im russischen Feuer umherirren. Ein Clip zeigt das Innere eines Mannschaftstransporters, bis neben ihm eine Granate explodiert. Auch die Russen veröffentlichen Fotos von Toten. Sie liegen in kleinen Trupps auf Straßen. Keller, in denen sich die Ukrainer sicher fühlten, wurden von schweren Bomben geknackt und sind nun voller Leichen. Unter einer Gruppe von Gefallenen nahe der alten Luftabwehrbasis im Süden sind die Reste einer Frau zu erkennen. Da sind alles Einzelaufnahmen, die sich nicht schlüssig hochrechnen lassen, aber das Bild ist dennoch eindeutig. Die Stadt wurde alles andere als planmäßig geräumt. Es ist eher anzunehmen, dass der Räumungsbefehl erst eintraf, nachdem sich einzelne Truppen schon ohne Befehl abgesetzt haben.
Die Motivation der Russen speist sich aus einem abenteuerlichen historischen Cocktail, so wie schon in den Separatisten-Kämpfen 2014. Die Soldaten kämpfen unter dem Banner des Heiligen Georg und hissen dann die rote Fahne der kommunistischen UdSSR. Und auch solche Szenen gibt es: Ein orthodoxer Priester im Ornat segnet eine russische Sturmgruppe, vor dem Gefecht küssen die Soldaten sein Kreuz. Das Zentrum der Stadt wurde von Soldaten aus Zentralasien erobert, sie bedecken ein Denkmal mit einer Fahne der längst untergegangenen Republik von Tuwa.
Russen machen weiter Druck auf Ukraine
Die bange Frage lautet: Wie geht es weiter? Wenn die Eroberung der Stadt die russische Kraft erschöpft hat, wie es in Bachmut der Fall war, bekommen die Ukrainer eine Gelegenheit, sich zu fangen und neu zu gruppieren. Es sieht derzeit aber nicht so aus. Die Russen greifen schon jetzt die Dörfer westlich der Stadt an – etwa Lastochkyne. Dazu haben sie ihre Angriffe an anderen Abschnitten verstärkt. So in Robotyne, einem der letzten im Sommer befreiten Dörfer, die noch von der Ukraine gehalten werden. Für Putin ist das wichtigste Kriegsziel der Donbass im Norden. Und hier liegt nur noch das auf einem Hügel gelegene Tschassiw Jar, als Wellenbrecher vor der letzten ukrainischen Verteidigungslinie, einer Kette von Städten von Kostjantyniwka über Kramatorsk bis nach Slowjansk. Derzeit versuchen die Russen Tschassiw Jar an den Flanken zu umgehen. Kramatorsk, Slowjansk und Tschassiw Jar werden massiv mit Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern angegriffen.
Front wie ein Haus ohne Dach
Awdijiwka mag vor dem Krieg eine unbedeutende Kleinstadt ohne großen Wert gewesen sein, nun hat sie strategische Bedeutung. Sie hat die letzte befestigte Verteidigungslinie abgeschirmt. Kiew besitzt nicht beliebig viele solcher Städte. Russland darf die letzte Bastion nicht erreichen. Wenn das geschehen sollte, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie durchbrochen wird. Neben dem Mangel an Munition, muss die Luftherrschaft der Russen beendet werden. Keine noch so gut geführte Verteidigung kann bestehen, wenn die Stellung jeden Tag mit hundert Präzisionsbomben angegriffen wird. Das ist der größte Unterschied zur ukrainischen Sommeroffensive 2024. Sie musste scheitern, weil Kiew keine Kräfte in der Luft hatte und nur sehr kurzfristig an manchen Stellen ein Übergewicht bei der Artillerie herstellen konnte. Kiew muss also eine sehr viel stärkere Luftabwehr hoher Reichweite nahe der Front aufbauen, und die muss aus dem Westen geliefert werden. Sollte Russlands Angriffsschwung nicht erlahmen und Putin weiterhin frische Munition, Bomben, Material und Soldaten in die Schlacht schicken können, werden die nächsten Monate über das Schicksal des Donbass entscheiden. Ein Zeitfenster, das General Andrei Mordvichev im Mai 2023 bereits genannt hatte.