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Krieg in der Ukraine Kiews Vorspiel zur großen Sommeroffensive: Warum diese Tage so entscheidend sind

Ukrainischer Soldat an der Bachmut-Front beim Aufmunitionieren seines IFV
Ukrainischer Soldat an der Bachmut-Front beim Aufmunitionieren seines IFV
© Iryna Rybakova / AP
Zwei Tage lang stürmten ukrainische Truppen gegen die russische Front. Es ist nicht die erwartete große Offensive. Doch das Ergebnis dieser Sondierungen wirft ein Licht auf die Chancen für einen Erfolg Kiews.

In Offensive beginnt meist nicht mit einem singulären Akt wie ein Raketenstart, die Frage nach dem Beginn "der" Offensive ist daher etwas sinnlos. Die Kiewer Sommeroffensive hat mit den Angriffen auf die russische Militärinfrastruktur schon lange begonnen. Die verstärkten Bodenkämpfe seit dem Wochenende haben nun eine neue Phase eingeleitet, aber auch sie markieren nicht wie ein Paukenschlag den Beginn einer Großkampflage mit 100.000 Soldaten.

Die Gefechte sind aber weit mehr als ein bedeutungsloses Geplänkel. Die Kämpfe sind auf über 100 Kilometer Länge aufgeflammt und am zweiten Tag wurden in der Summe größere Truppenmengen von der Ukraine in den Kampf geführt. Begonnen hat die Phase mit einzelnen Vorstößen auf der Ebene von Kompanien, die die Russen schnell abweisen konnten. Doch kaum schien die Situation unter Kontrolle, legten die Ukrainer nach und griffen mit stärkeren Einheiten an. Allein im Vorstoß um das Dorf Novodonets'ke sollen etwa fünf Bataillone eingesetzt worden sein.

Begrenzte örtliche Erfolge 

Ziel der Operationen ist es, schwache Stellen in der russischen Verteidigung zu finden und hier in die russischen Linien einzubrechen. Derzeit ist es viel zu früh, um von Erfolg oder Misserfolg zu sprechen. Teilweise wurden die ukrainischen Vorstöße abgewiesen, an anderen Orten konnten sie die Russen zurückdrängen. Deutlich ist schon jetzt, dass es nicht so leicht zu überraschenden Durchbrüchen kommen wird. Die Russen hielten ihre Linien, auch wenn sie diese teilweise zurücknehmen mussten. Die Gefechte sind zudem verlustreich, gemessen daran, dass es sich nur um stärkere Sondierungen handelt. Die russische Seite ist in der Lage, größere Mengen von zerstörten ukrainischem Großgerät zu zeigen.

Die heftigsten Kämpfe tobten um den Ort Novodonets'ke – die Lage in dem Ort ist zumindest unklar. Zeitweise sollen die ukrainischen Kräfte die Ortschaft kontrolliert haben. Zum Zeitpunkt dieses Artikels scheinen die Russen sie wieder herausgedrängt zu haben. Neben dem Angriff auf Novodonets'ke wurde ein weiterer Vorstoß weiter westlich angesetzt. Die Operationen haben zum Ziel, die russischen Positionen dazwischen, südlich von Welyka Nowosilka, das von der  Ukraine kontrolliert wird, abzuschneiden. Damit wäre der Weg auf eine strategisch wichtige Fernverkehrsstraße (TO518) frei. Sie führt nach Mariupol.

Diese Achse ist ein attraktives Angriffsziel für Kiew. Hier ist das russische Verteidigungssystem schwächer ausgebaut als weiter westlich oder gar im Donbass. Ein Durchbruch könnte die russischen Truppen im Westen abschneiden, dazu käme der psychologische Faktor der Befreiung von Mariupol. Doch das wäre eine spätere Operation in der Hauptachse der Sommeroffensive. Derzeit geht es nur darum, mit der möglichen Eroberung der russischen Frontnase südlich von Welyka Nowosilka eine bessere Basis für spätere Operationen zu erlangen.

Schnell wechselnde Lagen 

Neben den Kämpfen Novodonets'ke gelang den Ukrainer ein weiterer Erfolg nördlich von Bachmut. Dort wurden in den letzten Wochen die Ukrainer entlang eines Wasserreservoirs aufgehalten, nun sollen sie zumindest Teile des Dorfes Berchiwka eingenommen haben. Ziel hier ist es, die Fernstraße M03 zu erreichen und so den Versuch, Bachmut zu umfassen, ein Stück näher zu kommen. Auch hier behaupten die Russen, Kiews Soldaten wieder aus dem Ort gedrängt zu haben. Ungeachtet der ukrainischen Vorstöße setzten die Russen ihre Anstrengungen im Ort Mar'inka bei Donezk fort. Doch das sind nur Momentaufnahmen, die Kämpfe können jederzeit weitergehen.

Derzeit ist es schwer, die Meldungen von den Kämpfen einzuordnen. Neben dem allgemeinen Effekt, dass kriegsführende Parteien nur selten die ungeschminkte Wahrheit verkünden, kommen andere Faktoren hinzu. Etwa die Zeit, eine Einschätzung, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens durchaus zutreffend ist, kann bei einer beweglichen Lage zur Zeit ihrer Rezeption einige Stunden später komplett überholt sein. Und ein Rückzug ist nicht gleichbedeutend mit einer Niederlage. Die Ukrainer nutzen ihre gepanzerten Truppen, um einen Einbruch zu erzwingen, danach ziehen sie das Großgerät wieder von der direkten Frontlinie ab. Das ist ein normales Vorgehen, um die wertvollen Panzer und Schützenpanzer nicht zu exponieren und nicht das Zeichen eines Misserfolgs.

Sprengung des Staudamms dominiert

Am Dienstag werden die Bodenkämpfe durch die Zerstörung des Dammes von Nowa Kachowka dominiert. Beide Seiten machen sich gegenseitig dafür verantwortlich und beide haben ein Motiv. Mit der Sprengung könnte Russland seine Frontline stärken, denn eine Überquerung des Dnjepr durch ukrainische Truppen wird durch die Überflutungen massiv erschwert, ihre Versorgung über die geflutete Zone hinweg erscheint unmöglich.

Es handelt sich aber um keine dauerhafte Flut, das aufgestaute Wasser, das die Zone jetzt überschwemmt, wird ins nahe gelegene Meer fließen. Derzeit setzt die Flut vor allem das flach gelegene russische Stellungssystem unter Wasser. Auf Dauer wird so das Wasser für die russische annektierte Krim und die besetzten ukrainischen Gebiete knapp, die Versorgung der Krim wurde durch den Staudamm gewährleistet.

Denkbar ist auch, dass der beschädigte Damm allein durch den Wasserdruck geborsten ist. Da Anwohner von einer schweren Explosion berichten, ist diese Erklärung jedoch unwahrscheinlich.

Sollte Russland den Damm gesprengt haben, wäre das auch militärisch eine bedrohliche Eskalation für Kiew. Jedem ist bewusst, dass die Versorgung der russischen Truppen und der Krim von Putins Krimbrücke abhängt und ihre Zerstörung ein schwerer Schlag für die russische Logistik wäre. Weniger im Bewusstsein ist die Tatsache, dass die ganze Ukraine vom Dnjepr durchschnitten wird und es nur wenige Übergänge über den Strom gibt. Sollte Russland beginnen, systematisch diese Brücken und Dämme zu attackieren, wäre das eine humanitäre Katastrophe, es würde aber auch die ukrainische Logistik schwer treffen.

Russland verbreitet Videos, die zeigen sollen, wie eine gepanzerte ukranische Kolonne unter Feuer gerät.
Russland verbreitet Videos, die zeigen sollen, wie eine gepanzerte ukranische Kolonne unter Feuer gerät.
© Ministry Press Service / AP

Kein Einsatz der strategischen Reserve 

In den Bodenkämpfen haben die ukrainischen Streitkräfte mechanisierte Truppen mit westlichem Gerät eingesetzt. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass das beste Material also Kampfpanzer Leopard 2 und Schützenpanzer vom Typ Bradley und Marder an die Front geschickt worden sind. Auch wenn die Russen ohne Belege angeben, mehrere Leoparden abgeschossen zu haben. Tatsächlich scheinen einige der leichten französischen Radpanzer vom Typ AMX 10 beschädigt worden zu sein. Es handelt sich bei den Kämpfen nicht um den großen Schlag Kiews, dennoch haben diese Bodenkämpfe eine Bedeutung. Beide Seiten werden die Gefechte studieren und versuchen, die Taktik des Gegners zu erkennen und sich besser vorzubereiten. Diese Lernfortschritte können von außen nicht beurteilt werden.

Die Russen setzten bislang auf eine elastische Verteidigung. Bei dieser Taktik folgt einem begrenzten Rückzug ein baldiger Gegenangriff. Die Herausforderung für die ukrainischen Truppen ist dabei weniger der erste Angriff, sondern der Versuch, das Erreichte nicht wieder zu verlieren.

Bedeutung der kleineren Kämpfe

Militärisch und psychologisch sind Erfolge am Boden bedeutend. Gelingt es der Ukraine, ein oder zwei der befestigten russischen Frontausbuchtungen dauerhaft einzunehmen, ist das ein klarer Erfolg. Können die Russen die Ukrainer aber im Wesentlichen auf die Ausgangsstellungen zurückdrängen, ein ebenso klarer Misserfolg für Kiew. Ein Problem für Kiews kommende Operation zeichnet sich jetzt ab: Derjenige, der in diesem Krieg vorrücken will, ist gezwungen seine besten mechanisierten Truppen einzusetzen, dabei wird es zwangsläufig zu Verlusten von Panzern und Schützenpanzern kommen. Der Verteidiger in seinem Stellungssystem hingegen muss zumindest zunächst keine gepanzerten Kräfte direkt an die Front bringen. Ebenso zeigte sich, wie schwer das Vorrücken im Gelände und in kleinen Ortschaften wird, wenn nicht zuvor die Artillerie des Gegners niedergekämpft wurde und er seine Luftstreitkräfte entlang der Front einsetzen kann.

Ohne echte Erfolge kann Kiew die Taktik derart starker Sondierungsangriffe in dieser Form nicht lange fortsetzen.

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