2022 konnte die Ukraine zwei große offensiven Erfolge verbuchen. Östlich von Charkiw fanden ihre Truppen – mit Hilfe der Aufklärung der USA – eine schwache Stelle in den dünn besetzten russischen Linien. Ein kühner Vorstoß hinter die erschöpften russischen Truppen führte zu einem überstürzten Rückzug, bei dem die Russen sehr viel Material zurück ließen, aber immerhin ihre Truppen retten konnten. Zu so einem Sieg durch "Übertölpeln" wird es 2023 nicht mehr kommen. Putin hat weit inzwischen mehr Truppen in der Ukraine, diese erwarten eine Offensive und bereiten sich in einem tiefen Verteidigungssystem auf ukrainische Bodenoperationen vor.
Cherson-Operation
Erfolgversprechender sind die Gründe für den Erfolg der Ukraine im Raum Cherson. Hier kam es auch zu einer Bodenoffensive der Ukraine, die allein kam jedoch nur langsam voran und kostete an der Front große Verluste, dennoch gelang es die Stadt Cherson und das gesamte Gebiet westlich des Dnipro zu befreien. Die Russen räumten die Region. Offenbar ein Deal. Die Russen konnten ohne nennenswerte Verluste etwa 20.000 Mann in wenigen Tagen über den Fluss bringen, die ukrainischen Truppen konnten in dichten Formationen die Stadt befreien, ohne dass sie beschossen wurden.
Wie war das möglich? Die Logistik entschied den Kampf. Kiew war es gelungen, die russischen Nachschubrouten über den Dnepr zu kappen. Die Bodenoperationen hatten vor allem den Zweck, den Materialverbrauch der russischen Truppen in die Höhe zu treiben. Über Behelfsbrücken konnten die Russen nicht mehr genügend Nachschub über den Fluss bringen. Um ihr gesamtes Kontingent nicht zu gefährden, zogen sie sich zurück.
Krim und Landbrücke
Ein ähnliches Szenario, wenn auch im XXL-Maßstab, könnte auch im Sommer 2023 Kiew einen Erfolg sichern. Unter einer "Offensive" stellt sich das Publikum immer eine Bodenoperation vor. Panzer – Stichwort Leopard 2 - und Grenadiere schlagen eine Bresche in die gegnerische Front, stoßen dann vor und schneiden den Gegner von seinem Hinterland ab. Doch eine reine Bodenoffensive ist riskant. Die Russen haben die entscheidenden Stellen der Front mit Verteidigungsstellungen verstärkt. Bei deren Analyse kann man spotten, dass dies eine Art der Verteidigung im Stil der Stalinzeit ist und hat durchaus recht dabei. Allerdings wird die Verteidigung von Gräben und Bunkern heute von Drohnen, Anti-Panzerlenkwaffen und Manpads verstärkt. Die eingegrabene Infanterie kann über große Distanzen tödlich auf einen Angreifer einwirken. Hinzu kommt die russische Artillerie, die vor einem erfolgversprechenden Vorstoß ausgeschaltet werden muss. Ein weiteres Problem: Kiew kann für die Offensive in etwa 50.000 Mann frischer Truppen aufbieten. Größere Verluste kann sich die Ukraine daher nicht leisten.
Diese Vorbereitungen werden Putins Soldaten in der Abwehr nützen. Sie ändern die geografische Lage aber nicht. Westlich des Donbass befinden sich die russischen Streitkräfte in einer potenziell prekären Situation. Ihre Versorgung muss mehrere Engpässe überwinden. Die wichtigste Verbindung nach Russland verläuft über die Krim. Die Halbinsel wiederum ist nur durch die Brücke über die Straße von Kertsch mit dem russischen Hauptland verbunden. Schon im letzten Jahr wurde die Brücke durch eine Sabotageaktion beschädigt. Sie wird wieder ein vorrangiges Ziel sein. Dazu benötigt Kiew allerdings Präzisionswaffen größerer Reichweite, die eine Chance haben, die russische Luftverteidigung zu überwinden und die zudem einen Sprengkopf tragen können, der die Fahrbahn der Brücke zerstören kann.
Gelingt es Kiew, Putins Prestigebrücke zu zerstören, wird es für Moskau schwer, wenn nicht unmöglich, die Truppen im Westen der besetzten Gebiete zu versorgen. Die ukrainischen Angriffe auf Lager und Magazine mindern den Versorgungspuffer auf der Halbinsel. Doch neben der Brücke hat die russische Logistik weitere Achillesfersen. Im Westen ist die Krim nur durch zwei schmale Landbrücken mit dem Festland verbunden. Auch diese Verbindungen sind verwundbar, und sei es durch Landoperationen, die die Übergänge sperren.
Präzise Fernwaffen
Neben dem Weg über die Krim gibt es die von den Russen besetzte Zone zwischen Dnipro und Schwarzem Meer. An einigen Stellen ist diese Zone kaum mehr als 100 Kilometer tief. Die Eisenbahnverbindung, auf die der russische Nachschub angewiesen ist, verläuft zudem nicht direkt am Meer, sondern nördlich von Melitopol. Auch hier ist zu erwarten, dass die Ukraine diese Linie attackieren wird. Sei es durch Fernwaffen oder durch Partisanen. Russlands Nachschub ist darauf angewiesen, dass diese drei Nadelöhre offenbleiben. Werden die Lebensadern gekappt, müssen Kiews Truppen die Russen nur noch in Gefechte verwickeln, für die Russen Treibstoff und Munition benötigen, die nicht mehr nachkommen. Putins Albtraum dabei: Wie groß die Chancen sind, die entscheidende Brücke zu halten, entscheiden die Verbündeten der Ukraine. Wenn ein Partner Kiew Präzisionswaffen entsprechender Reichweite liefert, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Brücke getroffen wird.