Nach den Erfahrungen der ersten Kriegsmonate in der Ukraine wurde der Kampfpanzer bereits totgesagt. Vor allem die russischen Streitkräfte erlitten große Verluste durch die kleinen Panzerbekämpfungsmittel der Infanterie. Moderne Lenkwaffen wie die Javelin aus den USA setzten den gepanzerten Kolossen zu, da sie gezielt die wenig geschützte Oberseite eines Tanks angriffen. Aber auch "Oldies" wie die deutsche Panzerfaust 3 zeigten ihren Wert bei Kämpfen in engbebauten und unübersichtlichen Gebieten. Hinzu kam die neuartige Bedrohung durch Drohnen. Nicht nur Kampfdrohnen attackierten das Großgerät, auch billige kommerzielle Drohnen wurden in Waffen verwandelt.
Kampfpanzer und die gesamte militärische Großtechnik standen diesen Bedrohungen teils hilflos gegenüber – entsprechend groß waren die Verluste. Doch ausgedient hatten gepanzerte Transporter (APC), Schützenpanzer (IFV), Kampfpanzer (MBT) und anderes darum noch lange nicht. Die Artillerie wurde kriegsentscheidend, und als die Ukraine offensiv wurde, zeigte sich, dass es ohne mechanisierte Brigaden nicht geht. Die Verteidigung von befestigten und verbunkerten Städten ist möglich, selbst wenn nur wenige gepanzerte Fahrzeuge zur Verfügung stehen, doch der Angriff und tiefe Vorstöße gelangen der Ukraine nur mit mechanisierten Kräften.
Neuaufstellung im Krieg
Zu Beginn des russischen Überfalls besaß die Ukraine die größte Armee in Europa, nach Russland. Ihre 13 mechanisierten Brigaden stellten sich den Russen entgegen. Von ihrer Ausrüstung stammten nur die wenigsten Teile aus dem Westen und dann auch nur die kleineren Waffen. Das große Gerät stammte allesamt aus UdSSR-Zeiten, auch wenn die alten T-64 Panzer modernisiert worden waren. Diese Brigaden wurden im Laufe der Kämpfe zerschlissen und das Material abgenutzt.
Gleich nach Beginn der Invasion begann Kiew, sechs neue Brigaden aufzustellen. Nur mit ihnen konnte das Land hoffen, im Herbst zu Gegenoffensiven antreten zu können. Hier bestand die Chance, mit frischen Truppen in voller Stärke eigene Schwerpunkte zu setzen.
Kiew stand vor zwei Problemen. Durch die Mobilisierung konnten genügend Rekruten eingezogen werden, doch sie sollten ausgebildet werden, auch wenn sie bereits zuvor gedient hatten. Und das zweite Problem betraf die Ausrüstung.
Hoher Bedarf an großen Gerät
Eine Brigade in voller Stärke sollte drei, vier oder fünf Kampfbataillone besitzen. Eine mechanisierte Brigade der Ukraine umfasst etwa 1500 Mann. Es ist zunächst eine Infanterie- und keine Kampfpanzereinheit. Sie besitzt in der Regel ein Panzer-Bataillon und mehrere Infanterie-Bataillone. Mechanisierte Infanterie zieht mit Schützenpanzern und gepanzerten Transportern in den Krieg. Motorisierte Infanterie kämpft "zu Fuß" und nutzt die meisten Fahrzeuge im Wesentlichen für den Transport. So die reine Lehre. In der Ukraine endet die Doktrin in der Praxis. Durch den Mangel an militärischem Gerät benutzen die Truppen auch zivile Transporter, Lkw oder einfache Pkw.
Selbst in reduzierter Stärke benötigt ein Bataillon über mehr als 40 gepanzerte Kampffahrzeuge. Dazu kommen die Artillerie und die Luftverteidigung der Brigade, die Logistik, die Kommunikation und die Sanitäter. Auch eine schwache Brigade kommt so leicht auf 300 bis 400 schwere Rad- und Kettenfahrzeuge. Bei einem Stryker Brigade Combat Team (SBCT) der US Army wären es ungleich mehr.
Einen guten Teil der Ausbildung und der Fahrzeuge der neuen Kampfverbände stellten die westlichen Verbündeten. Allein an Kampfpanzern des Sowjettyps T-72 flossen Kiews Streitkräften über 300 Stück zu. Die Ausrüstung auch der neuen Brigaden ist ein wilder Mix. Teils sowjetischer, teils westlicher Provenienz. Neben den T-Modellen finden sich Humvees und gepanzerte Mannschaftstransporter aus dem Westen. Darunter echte Oldies wie der kaum gepanzerte M-113, aber auch neuestes Gerät wie die Panzerhaubitze 2000 oder die Caesar-Haubitze aus Frankreich. Sie sind in Einheiten im Einsatz, die zugleich 2S1- und 2S3-Haubitzen und die BMP-Schützenpanzer der Sowjetära nützen.
Logistisch ist das Sammelsurium ein Alptraum, war aber nicht zu vermeiden, wenn in so kurzer Zeit neue Großeinheiten aufgestellt werden sollen und zugleich die Verluste der bereits bestehenden Einheiten zumindest teilweise ersetzt werden müssen.
Wilder Mix der Ausrüstung
Der ukrainischen Führung ist dabei ein Kunststück gelungen. In einer Zeit, in der die Russen starken Druck im Donbass ausübten, widerstand man der Versuchung, die neuen Truppen tröpfchenweise als Verstärkung in den Donbass zu schicken. Dass sich das Warten gelohnt hat, zeigten die Offensiven bei Charkow und Cherson. In Sachen Ausbildung und bewegliches Gefecht bewiesen die Ukrainer ihre Überlegenheit über den Gegner.
Welcher Nachschub erreicht Kiew im Winter
Die fortdauernden Kämpfe führen jedoch zu einem kontinuierlichen Ausfall an Material. Teils können Gerät und Fahrzeuge repariert werden, zu einem guten Teil sind es aber auch Totalverluste. Denn auch wenn die Ukrainer sich geschickter anstellen als die Invasoren, können sie nicht aus der Welt schaffen, dass die gepanzerten und beweglichen Verbände von Drohnen, Artillerie und Abwehrraketen bekämpft werden und stärkere Verluste erleiden, als man vor dem Ukrainekrieg angenommen hätte. Entscheidend für Kiew wird die Frage sein, ob der Westen weiterhin diesen Krieg nähren kann. Ob ein zweites Mal genügend Material zusammengekratzt werden kann, um Großeinheiten über den Winter komplett neu aufzustellen oder ältere Einheiten wieder auf Sollstärke aufzufüllen. Im Sommer und Frühjahr hat man vorrangig ehemaliges UdSSR-Gerät in die Ukraine geschickt. Ein zweites Mal wird man aber nicht 300 T-72 zusammenbekommen.