General Sergej Surowikin, der wegen der Zerstörung von Aleppo im Jahr 2016 als General Armageddon bekannt ist, wurde als Befehlshaber der russischen Streitkräfte in der Ukraine durch General Waleri Gerassimow abgelöst. Gerassimow, der Generalstabschef der Streitkräfte, übernimmt das persönliche Kommando über die Streitkräfte in der Ukraine, das hat das russische Verteidigungsministerium auf Telegram gepostet. Nur drei Monate blieb Surowikin im Amt. Die Besonderheit des Wachwechsels: Surowikin bleibt in der Ukraine, er wird zweiter Mann hinter Gerassimow. Weitere Stellvertreter sind Oleg Salyukov und Alexei Kim.
Scheitern der Drohnenoffensive
Die Ablösung Surowikins hängt mit zwei Entwicklungen zusammen. Surowikin hatte versucht, den Krieg nicht über verlustreiche Bodenoperationen zu gewinnen, sondern die Entscheidung in einer Luftoffensive gesucht. Fernwaffen – also Drohnen, Cruise-Missiles und ballistische Raketen – sollten die Stromversorgung in der Ukraine ausschalten. Ein echter Blackout im Winter hätte die Industrieproduktion der freien Ukraine lahmgelegt und das Überleben in den Städten unmöglich gemacht.
Dieses strategische Kriegsziel konnte Surowikin nicht erreichen. Das Energienetz ist geschädigt, doch es kam nur zu temporären Ausfällen. Bislang gelang es stets, das Netz wieder zu flicken. Die Zerstörungswirkung der einzelnen Einschläge ist gering, wenn man sie etwa mit einem Kampfbomber oder gar Flächenbombardements vergleicht. Dazu wird der Großteil der Drohnen von der ukrainischen Flugabwehr abgeschossen. Russland ist es ebenfalls nicht gelungen, die Luftabwehr stark zu schwächen beziehungsweise auszuschalten. Das wäre geschehen, wenn Massen von Billig-Drohnen dazu geführt hätten, dass die Luftabwehr ihre Positionen verrät und die dann von High-Tech-Waffen ausgeschaltet wird. Tatsächlich wird Kiews Luftabwehr durch weitere Systeme aus dem Westen gestärkt.
Defensive Strategie Surowikins
Zugleich werden die "Erfolge" von Surowikin im Kreml misstrauisch beobachtet. Angeblich gegen den Widerstand Putins setzte der General den Rückzug aus dem Cherson-Brückenkopf durch. Dadurch bewahrte er fast 20.000 Mann vor der Einkesselung. Obwohl die Truppen einen Fluss ohne Brücken überqueren mussten, erlitten sie kaum Verluste. Der Rückzug war meisterlich, bedeutete aber doch einen Gesichtsverlust für Putin. Weiterhin ist Surowikin maßgeblich am Aufstieg der Wagner-Gruppe beteiligt. Die beiden "heißen" Kampfzonen an der 1000 Kilometer langen Front sind die Gebiete um die Städte Bachmut und Soledar. Dort tragen die Wagner-Männer die Hauptlast der Kämpfe. Inzwischen operiert die Privat-Armee in der Stärke eines regulären Armeekorps. Die Truppe ist der Hierarchie des regulären Heeres weitgehend entzogen und mit ihr ist neben den tschetschenischen Kämpfern von Kadyrow eine zweite autonom agierende Militärformation entstanden.
Rivalität mit der Wagner-Gruppe
Tatsächlich operieren die Wagner-Truppen nicht allein, so werden sie etwa von Luftlandetruppen begleitet. Doch ihr Aufstieg und ihre Erfolge demütigen die reguläre Armee. Die Wagnergruppe wie auch die Tschetschenen sind für den Krieg in den urbanen Räumen der Ukraine besser aufgestellt als Putins Armee. Diese stützt sich auf schwerbewaffnete motorisierte Verbände, deren Kampfkraft basiert auf Panzern und Schützenpanzern. Diese Waffen sind durch die Kämpfe abgenutzt und im Chaos eines Kampfes um Häuser und Straßenkreuzungen wenig geeignet. Die Wagnergruppe hingegen basiert auf leichter Infanterie – Soldaten, die es gewohnt sind, zu Fuß und unter improvisierten Bedingungen zu kämpfen.
General Gerassimow wird versuchen, den Vorrang des regulären Militärs wiederherzustellen und die Position des Wagnerchefs Jewgeni Prigohzin herunterzustufen. Fraglich ist allerdings, ob ihm das gelingt. Gerassimow hat als Generalstabschef den gescheiterten Invasionsplan der Ukraine zu verantworten. Zuvor galt er als militärisches Mastermind, als Stratege, der das Wesen kommender Kriege weit besser verstanden hatte als seine westlichen Gegenspieler. Seine Invasion der Ukraine im Februar 2022 wird als Beispiel für ein völlig gescheiterte Operation in die Geschichte eingehen – gescheitert aus einer Mischung aus Inkompetenz, Hochmut und krassen Fehleinschätzungen über den Gegner.
Die Aufgaben von Gerassimow
Aufgaben warten genug auf ihn. Den Russen dürfte inzwischen klar sein, dass es ihnen nicht gelingen wird, mit einer Drohnenoffensive den Krieg zu entscheiden. Am Boden verfolgte Surowikin eine defensive Strategie, wenn man von den Brennpunkten im Donbass absieht. Er wollte den Winter nutzen, um die abgenutzten Truppen aufzufrischen, die Reservisten zu integrieren und dabei tiefe Verteidigungslinien einzurichten. Grundsätzlich war das nicht falsch gedacht. Der Kriegsalltag und vor allem Angriffe gegen einen gut vorbereiteten Gegner würden die Ukraine schwächen. Kiew hätte über den Winter substantielle Verluste an Männern und Gerät erlitten. Vor allem die schwindende Zahl von Kampfpanzern und Schützenpanzern hätte Kiew so die Fähigkeit zur Rückeroberung genommen.
Doch mit der Ankündigung weiterer Waffenlieferungen des Westens wird diese Strategie brüchig. Nun muss der Kreml fürchten, dass Kiew über den Winter Schützenpanzer und Kampfpanzer westlicher Bauart erhält und mit ihnen neue motorisierte und gepanzerte Truppen aufstellen und ausbilden wird, die im Frühjahr zu Offensiven antreten können.
Bloßes Abwarten ist daher keine Option mehr. Gerassimow hat in der Vergangenheit gezeigt, dass er ein militärischer Denker ist. Russland benötigt frische Ideen, um trotz schwindender Kräfte am Boden wieder offensiv werden zu können. Doch hatte das russische Militär im vergangenen Jahr Probleme auf jeder Führungsebene. Die Inkompetenz und die Unfähigkeit, unvorhergesehene Herausforderungen unter Kontrolle zu bekommen, wird durch einen Führungswechsel nicht verschwinden, selbst wenn ein militärisches Genie auf dem Chefsessel Platz nehmen würde.
Was wie ein Machtwechsel aussieht, ändert in der Tat wenig. Als Generalstabschef und Mann aus der Umgebung Putin war Gerassimow schon zuvor höher gestellt. Zudem soll der Kreml dazu neigen, von Moskau aus direkt in die operative Planung einzugreifen. Das britische Verteidigungsministerium kommentierte, die Umstrukturierung werde "einem Großteil der russischen, ultranationalistischen und militärischen Blogger-Community, die Gerassimow zunehmend für die schlechte Kriegsführung verantwortlich macht", nicht gefallen. Gerassimows Einsatz auf dem Kriegsschauplatz "ist ein Indikator für den zunehmenden Ernst der Situation, mit der Russland konfrontiert ist, und ein klares Eingeständnis, dass die Kampagne hinter den strategischen Zielen Russlands zurückbleibt".
Doch nun ist "Putins bester Mann" vor Ort und leitet die Operationen selbst, anstatt in die Arbeit eines anderen hineinzugrätschen. Dazu hat Gerassimow einen direkten Draht zur Führung im Kreml. Und er wird in einem ganz anderen Maßstab als Surowikin auf den ganzen russischen Militärapparat auch außerhalb der Ukraine zurückgreifen können. Die entscheidende Rolle in den nächsten Monaten werden die Technokraten der Rüstungsindustrie spielen. Sie müssen trotz Sanktionen große Mengen an schwerem Gerät an die Truppe liefern. Nur dann wird Gerassimow seine Streitkräfte in der Ukraine wieder auffüllen können. Und nur mit entsprechendem Gerät kann Russland weitere Soldaten mobilisieren, um eine zahlenmäßige Überlegenheit an der Front zu erlangen.