Kann Russland den Krieg in der Ukraine mit konventionellen Mitteln noch gewinnen? Daran bestehen seit den jüngsten Erfolgen der ukrainischen Seite berechtigte Zweifel. Allzu deutlich waren die Raumgewinne Kiews, allzu schwer die russischen Verluste an schwerem Gerät.
Das weiß man auch in Russland und dennoch gibt sich der neue General Surowikin siegessicher, auch wenn er schwierige Situationen ankündigt. Wie sieht sein Kalkül aus?
Stromnetz
Derzeit greift Russland gezielt die Stromversorgung im Land an. Umspannstationen und vor allem Kraftwerke werden getroffen. Diese Ziele können auch von Fernwaffen mit begrenzter Wirkung schwer geschädigt werden und lassen sich nicht zeitnah reparieren. Ziel ist es, die Strom- und dann auch die Wasserversorgung in der Ukraine lahmzulegen. Und die Folgen wären fürchterlich. Vergleiche mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs führen nicht weiter, da damals die Gesellschaft nicht in dem Maße wie heute vom Stromnetz abhängig war. Ohne Elektrizität läuft in Städten und größeren Häusern buchstäblich nichts. Nicht nur die Industrie – auch Heizung, Wasser einfach alles hängt heute von Strom ab. Kommt es zu lang anhaltenden Stromausfällen, bricht die Gesellschaft zusammen. Die Folge wäre ein Stillstand des Wirtschaftslebens und eine ungeahnte Fluchtwelle.
Schreitet die Zerstörung so wie in den letzten Wochen voran, kann Putin das Vorhaben gelingen. Dabei hat Russland noch Eskalationspotenzial nach oben, etwa wenn die Staustufen und Dämme des Landes systematisch angegriffen werden.
Strategische Luftoffensive
Bisher hat Russland nicht die Luftherrschaft erreichen können. Im Gegenteil: Im Laufe der Zeit wurde die ukrainische Luftabwehr durch westliche Hilfe immer stärker. Nun steht ein neues Duell bevor: westliche High-Techwaffen gegen Massen von iranischen Billig-Drohnen und Billig-Raketen. Das russische Kalkül lautet in etwa: "Wir schicken 50 einfache Drohnen vor, dann wird die Luftverteidigung aktiv und verrät ihre Position und die greifen wir mit weit gefährlicheren Waffen an." Es ist ein Problem der Menge, da es nicht möglich ist, avancierte Abwehrraketen im gleichen Umfang herzustellen wie einfache Drohnen. Der Ausgang des Kampfes ist vollkommen offen. Viel hängt davon ab, in welchem Maß Russland iranische Fernwaffen erhält.
Die leeren Magazine
Im Westen wird stets darüber spekuliert in welchem Maßstab sich die russischen Vorräte an Waffen und Munition leeren. Richtig ist, dass Russland deutlich mehr Material verliert, als es nachproduzieren kann. Doch dieses Problem kennt Kiew schon lange. Das Land ist vollständig auf Nachschub aus dem Westen angewiesen. Moskaus Kalkül besagt, dass diese Lieferungen nicht ewig anhalten werden. Die NATO-Staaten hatten damit begonnen, Waffen zu liefern, die ihre Streitkräfte entbehren können. Das geht nicht ewig weiter so und dann fragt sich, wie viele neue Waffensysteme produziert werden und welcher Teil davon in die Ukraine gelangt.
Mehr Soldaten
Über die russische Mobilisierung ist viel und zurecht gespottet worden. Das ändert aber nichts daran, dass Russland die Zahl seiner Soldaten in der Ukraine massiv erhöht. Truppen zweiter Güte sind auch schon zuvor im Einsatz gewesen – auf ukrainischer Seite etwa die Einheiten der Territorialverteidigung. Und sie haben durchaus eine Berechtigung. Die gesamte Front ist beinahe 1000 Kilometer lang. An den Schwerpunkten – etwa im Donbass – stehen sich Truppenkonzentrationen gegenüber. Andere Frontabschnitte werden dagegen von beiden Seiten kaum besetzt. Durch diese Lücken konnte Kiew seine erfolgreichen Vorstöße führen. Doch diese Lücken werden die Reservisten auffüllen. Für eine Verteidigung in vorbereiteten Stellungen benötigt man keine erstklassigen Soldaten. Auf lange Sicht basiert das russische Kalkül darauf, eine deutliche zahlenmäßige Überlegenheit zu erlangen.
Land aufgeben, Truppen bewahren
Die Evakuierung von Cherson bestätigt, was sich schon östlich von Kiew andeutete: Die russische Führung ist bereit, erobertes Gelände schnell aufzugeben, um so eine Umschließung ihrer Truppen zu verhindern. Ziel ist es, größere Verluste an Soldaten zu verhindern. Inwieweit das gelingt, ist schwer zu beurteilen. Aber offensichtlich konnten die ukrainischen Streitkräfte bei ihrer Offensive bislang nicht Tausende von Gefangenen einbringen.
Zurückweichende Verteidigung
Im Raum von Cherson und in Luhansk kopiert die russische Führung die Kriegsführung der Ukraine im Donbass. Die gesamte Gegend soll bis weit hinter die Front befestigt werden. Durch Bunker, Grabensysteme, Minensperren und vorbereitete Killzones. Das sind Methoden, wie man sie aus der Schlacht um den Kursker Bogen im Zweiten Weltkrieg kennt. Ziel ist es, tiefe, strategische Einbrüche des Gegners zu verhindern. Sich gegenseitig deckende Stellungen machen es schwer, einen Erfolg in der Tiefe auszunutzen. Im Angriff auf solche gestaffelten Verteidigungsanlagen erleidet der Angreifer meist erhebliche Verluste. Dabei wollen die Russen heute eines besser machen als früher: Sie wollen den Moment abpassen, an dem das Gefecht "kippt" und sich dann zurückziehen. Die Ukraine hätte dann die Verluste des Ansturms, die aber nicht durch Verluste des Gegners ausgeglichen werden, wenn seine Stellung überrannt wird.
Diese Taktik soll die Faktoren "Anzahl der Soldaten" und "Leeren der Magazine" weiter zum Vorteil Russlands beeinflussen.
Fazit
Die russische Strategie allein ist kein Garant für Erfolg. Wenn der Westen etwa kontinuierlich Waffen und Munition in die Ukraine liefert, wird sich der Faktor Magazine gegen Russland wenden. Dergleichen ist es wegen der besseren Moral durchaus möglich, dass die kleine Ukraine mehr Soldaten aufstellen kann als das große Russland.
In den nächsten Wochen werden Indikatoren zeigen, wie erfolgreich General Surowikin ist. Das eine ist der Luftkrieg: Es wird bald absehbar sein, ob er in der Ukraine buchstäblich flächig das Licht ausschalten kann – oder ob die Luftverteidigung des Westens diese Bedrohung ausschaltet.
Gelingen den ukrainischen Streitkräften am Boden weitere tiefe Einbrüche wie bei Charkow, ist das ein Zeichen, dass Russland es nicht schafft, eine zähe Verteidigung aufzubauen. Das sähe man, wenn Kiew den russischen Brückenkopf bei Cherson komplett eindrücken und sich am anderen Ufer festsetzen kann. Kommt es aber nur zu einzelnen Geländegewinne, weil die Front mit Gewalt und unter Verlusten nur von einem Dorf ins nächste geschoben wird, ist es durchaus möglich, dass die Abnutzung der ukrainischen Truppen zu groß wird, um diese Form der Kriegsführung fortzusetzen