Krieg in der Ukraine Vorbild Kursk – mit Methoden aus dem Zweiten Weltkrieg will Putin die ukrainische Offensive stoppen

Als sich der Angriff der Deutschen erschöpft hatte, trieb die Rote Armee die Wehrmacht zurück.
Als sich der Angriff der Deutschen erschöpft hatte, trieb die Rote Armee die Wehrmacht zurück.
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Die ganze Welt wartet auf den Gegenangriff von Kiews Truppen. Doch Russland hatte ein halbes Jahr Zeit, sich mit einem Stellungssystem vorzubereiten, das die Deutschen in der Schlacht von Kursk besiegte. Heute verstärken smarten Waffen das Geflecht aus Gräben, Killzonen, Minenfeldern und Drachenzähnen.

Seit Ende 2022 bereiten sich die Russen auf die Gegenoffensive der Ukraine vor. Überall an der Front werden Befestigungen und Sperren errichtet. Das russische Militär will die Ukrainer im Jahr 2023 mit den gleichen Rezepten bezwingen, mit denen es ihnen 1943 in der Schlacht um den Kursker-Frontbogen gelang, die letzte große Offensive der Deutschen Wehrmacht, die Operation "Zitadelle", zu zerschlagen (Hitlers Offensive bei Kursk - das Grab der deutschen Panzer).

Russlands Militär musste damals eine Realität anerkennen. Trotz der Erfolge vor Moskau 1941 und Stalingrad im Winter 1942/43 waren die russischen Truppen den deutschen Verbänden im offenen und beweglichen Gefecht unterlegen. In der dritten Schlacht von Charkow erlitten sie eine schwere Niederlage, die Panzerkräfte, die die Deutschen bei Stalingrad so bravourös eingeschlossen hatten, wurden ausmanövriert und im Wesentlichen aufgerieben. Danach beschloss das sowjetische Oberkommando, die Stawka, nicht selbst aktiv zu werden und lieber den deutschen Angriff abzuwarten.

Die letzte große deutsche Offensive im Osten

In der Frontausbuchtung um die Städte Kursk und Orel gruben sich die sowjetischen Truppen ein. Dabei entwickelten sie sich zu Meistern der Verteidigung, aber auch des Zynismus gegenüber den eigenen Truppen. Denn das Kalkül Moskaus schloss ein, dass ein guter Teil der eigenen Truppen einfach aufgeopfert werden sollte.

Die gleiche Art der Verteidigung bereiten nur Putins Soldaten in der Ukraine vor. Auch der Kreml traut seinen Soldaten keine raumgreifenden Operationen zu, und kalkuliert, dass die Vereidigung derzeit die beste Option ist. In mehreren Punkten unterscheidet sich die ukrainische Gegenoffensive allerdings von der Operation Zitadelle. Stalin war damals genauestens über die deutschen Pläne informiert, während den Deutschen die russischen Vorbereitungen weitgehend entgingen. Dank der USA dürfte Kiew heute weit bessere Informationen über das Schlachtfeld haben als Moskau. Dazu stimmt der Maßstab nicht. In der Schlacht um Kursk wurden auf kleinem Raum ungeheure Mengen an Truppen zusammengezogen. Die Frontlinie der Ukraine hingegen ist über 1000 Kilometer lang, und selbst wenn sich der Angriff auf einen Abschnitt konzentriert, wird Kiew nur etwa 9 bis 12 Brigaden zu 4000 Mann ins Feld führen können – also etwa 50.000 Mann. Hitler zog 1943 dagegen 800.000 Soldaten zusammen. In der Schlacht erlangten die deutschen Angreifer zwar nie die absolute Luftherrschaft, aber dennoch traten die Deutschen mit einer veritablen Luftstreitmacht an. Anders Kiews Truppen, sie werden Drohnen in die Luft bringen, aber eine massive Luftunterstützung der Kiewer Truppen durch Jets und Hubschrauber über dem Schlachtfeld ist sehr unwahrscheinlich.

Verteidigung in der Tiefe des Raumes

Die russischen Verteidigungsstellungen bestehen aus verschiedenen Elementen und unterscheiden sich nicht wesentlich von den ukrainischen Gegenstücken. Basis ist nach wie vor der Infanteriegraben, er dämpft die Wirkung von Mörsern und Artillerie massiv ein, weil er die weitreichende Splitterwirkung abfängt. Vor einem direkten Treffer schützt er nicht. Vor allem hat der Graben seine Funktion als Sichtschutz verloren, wenn der Gegner Drohnen einsetzt, die von oben in den Graben schauen.

Die Gräben wiederum sind von befestigten Unterständen und Bunkern umgeben. Gräbt man diese tief genug ein, sind sie nur durch direkte Treffer von speziellen Bunker-Knackern auszuschalten.

Dazu dürften Dörfer und Städtchen befestigt werden. Die ukrainischen Soldaten haben im Donbass bewiesen, dass entschlossene Verteidiger auch einen überlegenen Gegner im armierten, urbanen Terrain lange aufhalten können. Normalerweise fixiert ein Grabensystem die eigenen Truppen. Das ändert sich allerdings, wenn Stellungen im Übermaß hergestellt werden und der Gegner zunächst nicht wissen kann, welche Abschnitte besetzt sind. Im unmittelbaren Frontgebiet werden Gräben und Bunker mit der Schaufel ausgehoben. Die Russen konnten ihre Befestigungen hingegen industriell mit Baumaschinen anlegen. Im Kampf um Kursk hatten die Sowjets erstmals begonnen, Panzer einzugraben. Für sie wurde eine Box ausgehoben, in die sie von hinten einfahren können, die aber Front und Seiten des Panzers mit Erdwällen schützt, nur der Turm schaut heraus und bietet so ein kleines Ziel. Auch für die älteren T-Modelle, die im offenen Feld wenige Chancen gegen die Westpanzer Kiews hätten, wäre das eine Option. Hinzu kommt das übliche System des Tarnens und Täuschens. Wenn solche Panzer-Boxen nach oben gegen Sicht geschützt werden, lässt sich nur schwer ausmachen, ob sie auch besetzt sind.

Den Gegner erlahmen lassen 

Während derartige Stellungen den eigenen Truppen Rückhalt geben sollen, sollen Sperren und Hindernisse jeder Art die Bewegung des Gegner erschweren und sie in bestimmte Richtungen lenken. Die Russen legen Drahtverhaue an, tiefe Sperrgräben, die auch Panzer so nicht überfahren können, dazu Betonsperren aus Drachenzähne und Minenfelder. Hinzu kommt eine Besonderheit des ukrainischen Schlachtfeldes. Zum einen sind nur wenige Brücken in der Lage, die sehr schweren Westpanzer zu tragen. Zum anderen führt die Schlammbildung dazu, dass Fahrzeuge im Gelände zumindest behindert sind. Auf lange Distanzen sind Radfahrzeuge auch bei Trockenheit auf das Straßennetz angewiesen. Sollte Kiew ein tiefer Einbruch gelingen, benötigen die vorgestoßenen Truppen große Mengen an Nachschub. Der kann aber nur über das Straßennetz geliefert werden. Die ukrainischen Streitkräfte können daher Städtchen und Dörfer nicht dauerhaft umgehen, sie müssen die wichtigsten Straßenkreuzungen klären.

Die Russen werden dagegen versuchen, die für eine Bewegung günstigen Zonen zu sperren. Keines der Hindernisse ist unüberwindbar – doch sobald Sperren, Drachenzähne und Gräben mit Minen kombiniert werden, wird es zeitaufwändig, hier sichere Gassen zu bilden. Die jüngsten Waffenlieferungen des Westens enthalten Ausrüstung, um Minenfelder zu klären und auch solches, um Flüsse oder Gräben zu überqueren. Prognosen sind schwer möglich. "Wenn Russland auch Minen effektiv einsetzt, wird es für die Ukraine schwierig“, sagte Mick Ryan, ehemaliger Generalmajor der australischen Armee und Kampfingenieur der Agentur Reuters. Das wäre etwa dann der Fall, wenn Drachenzähne und Minen kombiniert werden. Oder die Russen eine erste Durchquerung der Sperre zulassen, die nachrückenden Truppen in der engen geräumten Gasse dann aber mit Minen überschütten, die von Raketenwerfern aus der Ferne verteilt werden

Anzunehmen ist auch, dass die denkbaren Durchbruchstellen den Russen bekannt sind und sie ihre Fernwaffen wie Raketen und Artillerie auf diese Positionen eingestellt haben. Die ukrainischen Truppen könnten dort also unter Beschuss kommen. Auf Videos ist zu sehen, wie die Russen Kamikazedrohnen als smarte Sperre vorbereiten. Diese Quadcopter können nur kurz in der Luft sein, werden sie aber in einer Lauerstellung am Boden oder in einem Gebäude geparkt, sind sie sehr viel länger einsatzbereit. Vor allem dann, wenn sie noch mit einem weiteren Bodenakku versehen werden, der beim Start zurückbleibt.

Übermacht an einem Abschnitt

Bei einer starren Verteidigung gibt es ein entscheidendes Problem für den Verteidiger: Er muss hunderte von Kilometern sperren, während der Gegner seine Durchbrüche auf wenige Kilometer Frontline begrenzen kann – dort also eine zahlenmäßige Überlegenheit herstellen kann. Mit einem Durchbruch durch eine erste Linie wird es allerdings getan sein. Auch hier beherzigen die Russen die Lektionen aus der Schlacht von Kursk. Sie legen tiefgestaffelte Systeme in mehreren Linien auf, in den sich zudem stark befestigte Stützpunkte befinden. Das zwingt den Gegner dazu, seine Kräfte aufzuteilen. In diejenigen, die weiter vorstoßen, und die, die den ersten Einbruch verbreitern und schließlich jene, die die russischen Strongpoints einschließen. Wenn Putins Truppen nicht einfach davonlaufen, und sei es, weil Sperrtruppen sie daran hindern, kann es sehr schnell eng für die Ukrainer werden. Ihre zahlenmäßig geringen Kräfte dürfen weder große Verluste erleiden noch erlaubt es ihre Stärke, sie fortwährend aufzuteilen. In der Schlacht um Kursk ist die Strategie damals aufgegangen. Den Deutschen gelang es zwar, sich durch die Befestigungen zu kämpfen, doch am Ende waren ihre Elitetruppen so erschöpft und abgekämpft, dass Hitler die Schlacht abbrechen ließ.

Geschichte wiederholt sich nicht. Kiew ist es mit westlicher Hilfe gelungen, trotz des russischen Drucks im Donbass, ein frische, mobile Streitmacht ausgerüstet mit modernen Waffen aufzustellen. Doch vor dem Krieg der Bodentruppen muss es zum Kampf der Fernwaffen kommen. Kiew muss ein Mittel gegen Putins Artillerie und die neu eingesetzten Gleitbomben finden, damit die eigenen Truppen sich überhaupt zum Angriff formieren können. Es ist gut möglich, dass Waffen wie die Himars-Werfer hier entscheidende Erfolge erringen, um die Offensive vorzubereiten. Sollte Putin sich aber nicht allein mit Beton und Minen auf die Gegenoffensive vorbereitet und seinerseits eine große Reserve smarter Waffen angelegt haben, wird es schwierig. Derzeit arbeitet die Kamikaze-Drohne Lancet sehr effektiv gegen die Ukrainer. Mit einer Reichweite von 40 Kilometern deckt sie den Bereitstellungsraum eines Gegenangriffs ab. Von solchen Waffen sollten die Russen besser nicht zu viele haben (Lancet Drohnen zerstören vier S-300 und beschädigen einen deutschen Flakpanzer Gepard).

Das Drama der hohen Ewartungen 

Vielen Unterstützern Kiews dämmert es, dass die Mär von den dummen Russen und den unüberwindlichen Ukrainern gefährlich werden kann. Wenn zahlreiche "Experten" bereits die Befreiung der Krim verkünden, wird die Latte für einen Erfolg sehr hoch gelegt. Die seriösen Unterstützer Kiew fragen sich, was geschieht, wenn Kiew diese hochfahrenden Erwartungen nicht erfüllen kann und die Gegenoffensive keine spektakulären Erfolge erreicht. Dominic Nicholls, Mitherausgeber des "Telegraphs", fürchtet, dass ein Misserfolg nach einem zu ehrgeizigen Bemühen Kiew stark unter Druck setzen wird, eine Verhandlungslösung nach Moskaus Vorstellungen anzunehmen. Er warnt:  "Aus dieser Perspektive betrachtet, könnte das Streben nach bescheidenen Gewinnen, die die militärische Stärke und Kohärenz der Ukraine erhalten, ohne die internationale politische Unterstützung aufzugeben, ein besseres Ziel sein."

Quellen: Reuters., Telegraph

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